Eine Messe für all die Toten
sagte er sich, daß er zunächst feststellen mußte,
wer Harry Josephs umgebracht hatte. Gut, mal angenommen, es war Hochwürden
Lionel — unter der Voraussetzung, daß irgend etwas ihn ja zum Selbstmord getrieben
haben mußte. Aber wenn es nicht Lionel war, der sich vom Turm gestürzt hatte?
Wenn Philip unfreiwillig den Weg in die Tiefe gegangen war? Das hörte sich zwar
recht überzeugend an, die Argumente, die dagegen sprachen, wogen aber
entschieden schwerer. Hochwürden Lionel hätte der Leiche seines Bruders die
eigenen Sachen anziehen müssen, bis hin zum schwarzen Priesterrock und weißen
Kragen. Und das war in so kurzer Zeit nach dem Gottesdienst rein physisch
unmöglich. Aber wenn... Ja, wenn es nun Lionel irgendwie gelungen war, Philip
zum Kleidertausch zu überreden? War das denkbar? Natürlich war es denkbar.
Nicht nur denkbar, sondern sehr wahrscheinlich. Und warum? Weil Philip Lawson
das nicht zum erstenmal machte. Er hatte sich einverstanden erklärt, das Priestergewand
des Bruders zu tragen, um am Altar zu stehen, während Josephs ermordet wurde.
Da er für diesen Einsatz bestimmt ein hübsches Sümmchen kassiert hatte, war er
vermutlich zu einer Wiederholungsvorstellung gern bereit gewesen. Daß er damit
sozusagen seine eigene Beerdigung vorbereitete, ahnte er ja nicht. Aber kaum
hatte Morse dieses Problem gelöst, kam schon das nächste. Zwei Zeugen hatten
den Mann, der vom Turm gefallen War, zweifelsfrei identifiziert. Allerdings war
dieser Einwand relativ leicht zu widerlegen. Hatte es Mrs. Walsh-Atkins
wirklich fertiggebracht, das blutige, zerschmetterte Gesicht genau zu
betrachten? War es nur ein Zufall gewesen, daß sie vor der Kirche gestanden
hatte? Denn da war noch jemand gewesen. Jemand, der sofort bereit war, die
falsche Identität der Leiche zu bezeugen: Paul Morris. Und Paul Morris war
hinterher ermordet worden, weil er zu viel wußte, weil er insbesondere wußte,
daß Hochwürden Lionel noch unter den Lebenden weilte und obendrein noch ein
Mörder war. Ein Doppelmörder, ein Dreifachmörder...
«Bitte trinken Sie aus, Sir», sagte der Wirt.
«Am Sonntagvormittag schaut oft die Polizei bei uns vorbei.»
25
Am gleichen Tag saß kurz nach acht ein Mann
mittleren Alters in weißem Hemd ohne Krawatte in einem hellerleuchteten, hübsch
eingerichteten Zimmer und wartete. Er lehnte auf einem bequemen Chintzsofa mit
braunweißem Blütenmuster und starrte mit ziemlich leerem Blick auf die
Mattscheibe, wobei er eine lange Benson&Hedges-Zigarette rauchte. Sie hatte
sich heute abend ein bißchen verspätet, aber kommen würde sie bestimmt, denn
sie brauchte ihn ebenso sehr, wie er sie brauchte. Manchmal, vermutete er,
sogar noch mehr. Eine bereits geöffnete Flasche Rotwein und zwei Weingläser
standen auf dem Beistelltisch neben ihm, und durch die halb geöffnete
Schlafzimmertür sah er die Hypotenuse der zurückgeschlagenen Bettdecke.
Jetzt komm endlich, Schätzchen.
Es war zehn nach acht, als er es schließen
hörte. Obgleich es draußen stetig nieselte, sah ihr hellblauer Regenmantel, den
sie von den Schultern nahm und ordentlich zusammengefaltet über eine
Sessellehne legte, trocken aus. Die weiße Baumwollbluse saß straff über dem
Busen, der enge schwarze Rock folgte der Rundung ihrer Hüften. Eine Weile sagte
sie nichts, sondern sah ihn nur an. In ihrem Blick lagen weder Freude noch
Zärtlichkeit, nur eine glimmende animalische Sinnlichkeit. Sie ging auf ihn zu
und blieb in aufreizender Haltung vor ihm stehen.
«Du hast mir doch gesagt, daß du mit dem Rauchen
aufhören würdest.»
«Setz dich und hör auf zu meckern, Weib. In
dieser Kluft machst du mich an.»
Die Frau gehorchte. Es schien fast, als beugte
sie sich widerspruchslos seinen Wünschen und Launen, als bereite ihr seine
schroffe Art, sie herumzukommandieren, so etwas wie Genuß.
Es gab keine zärtlichen Worte, keine Liebkosung,
aber sie saß dicht neben ihm, als er den Wein einschenkte, und er spürte den
Druck ihres schwarz bestrumpften Beines (brav, sie hatte es also nicht
vergessen). Mit einem Rest von gegenseitiger Achtung ließen sie die Gläser
aneinanderklingen, und sie lehnte sich zurück.
«Hast du den ganzen Abend ferngesehen?» fragte
sie, offenbar nur, um etwas zu sagen.
«Ich bin erst um halb sieben zurückgekommen.»
Jetzt sah sie ihn zum erstenmal voll an. «Es ist
Wahnsinn, daß du da draußen rumläufst. Besonders am Sonntag. Ist dir nicht klar
—»
«Reg dich ab. Ich bin kein
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