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Eine Messe für all die Toten

Eine Messe für all die Toten

Titel: Eine Messe für all die Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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in die Hüften gestützt, stehenblieb und stolz
ihr bescheidenes Werk betrachtete. Dabei wußte er, daß sie sehr viel stärker
gefährdet war, als das Mauerwerk über dem Südportal es je sein würde. Wenn er
recht hatte (woran er seit 10.20 Uhr einige Zweifel hegte), war Ruth Rawlinson
kein Tod im Bett, sondern in eben dieser Kirche zugedacht, in der er jetzt
hinter dem roten Vorhang des Beichtstuhls saß. Seine Befürchtung, sie könne mit
Eimer und Schrubber seinem Versteck zu Leibe rücken, hatte sich bisher als
grundlos erwiesen. Jetzt aber sah sie sich mit übereinandergeschlagenen Armen
suchend um. Aber was war eigentlich dabei, wenn sie ihn fand? Er würde ihr
alles erklären, würde sie vielleicht auf einen Drink ins Randolph einladen. Dennoch war er froh, als das Eimergeklapper sich entfernte und er
kaltes Wasser in den Eimer platschen hörte.
    Inzwischen hatten etliche Besucher die Kirche
betreten, und bei jedem Klicken der Klinke, bei jedem Knarren der Tür hatte
sich Morses Spannung gesteigert — nur um wieder in sich zusammenzufallen, wenn
die Besucher sich einigermaßen ziellos umsahen, die ausgelegten Schriften
durchblätterten und zehn Minuten später wieder verschwanden. Lewis hatte ihr
Kommen und Gehen beobachtet. Der Kaffee neben ihm war längst kalt geworden.
Aber Morses Aufmerksamkeit ließ immer mehr nach, und er begann sich zu
langweilen. Das einzig greifbare Buch war eine Bibel mit steifem Einband, in
der er jetzt unkonzentriert blätterte. Er dachte an seine Jugend. Irgendwann
hatte es in seiner religiösen Entwicklung einen Bruch gegeben, er hatte seinen
schwärmerischen Glauben der frühen Jahre fast völlig verloren und mußte sich jetzt
eingestehen, daß bei dem ungeheuer schwierigen Unterfangen, Leben und Tod in
einem wie auch immer gearteten philosophischen System zu sehen, die Lehren der
Kirche für ihn nur noch Geschwafel waren. Es war möglich, ja wahrscheinlich,
daß er sich irrte — so, wie er sich wahrscheinlich in dem heutigen Vormittag
geirrt hatte. Dabei schien der Zeitpunkt so logisch. Hätte er in der Haut des
Mörders gesteckt, er hätte sich mit Sicherheit diese Zeit ausgesucht.
    Erst jetzt drang der metallische Laut, den er
fast unbewußt registriert hatte, in sein Bewußtsein vor. Konnte es sein, daß sich
ein Schlüssel in der Tür des Nordportals gedreht hatte? Verflixt, der Zettel
mit dem Hinweis auf die mutwilligen Zerstörungen... Jemand hatte abgeschlossen.
Aber warum hatte man nicht erst einen Blick in die Kirche geworfen? Da war ja
schließlich noch Ruth, vielleicht gab es auch noch andere Besucher. Wenn Ruth
keinen Schlüssel hatte, waren sie alle eingesperrt.
    Morse merkte selbst, wie nebelhaft und verworren
seine Gedanken wurden — und dann gab es ihm plötzlich einen Ruck. Er hatte ganz
in der Nähe eine Männerstimme gehört. «Guten Tag, Ruth.» Eine durchaus
angenehme Stimme. Trotzdem stockte Morse das Blut in den Adern. Jawohl, jemand
hatte die Kirche abgeschlossen. Aber von innen.
     
     
     

35
     
    «Was machst du denn hier?» fragte sie scharf.
«Ich habe dich gar nicht kommen hören.»
    «Glaub ich gern. Ich bin schon lange hier. War
oben auf dem Turm. Ganz schön kalt, aber der Blick ist phantastisch. Ich schau
gern auf Dinge herab — und auf Menschen.»
    (Warum nur hatte Lewis wie hypnotisiert
ausschließlich auf die Tür gestarrt...)
    «Aber du mußt weg, hier kannst du nicht bleiben.
Du dürftest überhaupt nicht aus dem Haus gehen.»
    «Du machst dir zu viel Gedanken.» Er legte ihr
eine Hand auf die Schulter und zog sie an sich.
    «Sei nicht albern», flüsterte sie rauh. «Ich hab
dir doch gesagt... wir haben abgemacht...»
    «Keine Angst, mein Schatz, die Tür ist zu. Ich
habe sie eigenhändig abgeschlossen. Außer uns ist keiner da. Komm, setzen “ wir
uns einen Augenblick.»
    Sie stieß ihn zurück. «Ich hab dir doch gesagt,
es muß ein! Ende haben.» Ihre Lippen zuckten, sie war den Tränen nah. «Ich
halte das nicht mehr aus, ich kann nicht mehr. Du mußt weg.» |
    «Natürlich, deshalb bin ich ja hier. Jetzt setz
dich, Ruth, oder ist das zuviel verlangt?» Seine Stimme war seidenweich,
überredend.
    Sie ließ sich auf die Kirchenbank sinken, und
der Mann setzte sich neben sie, keine drei Meter vom Beichtstuhl entfernt.
(Morse sah, daß der Mann gute braune Schuhe trug, die aber offenbar viele
Wochen lang nicht mehr geputzt worden waren.) Eine Weile schwiegen sie beide.
Der Mann hatte den Arm auf die Banklehne gestützt, seine

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