Eine Messe für all die Toten
aus dem er jeden Augenblick erwachen mußte.
«Kommen Sie herunter. Hier können wir nicht
reden», sagte Morse freundlich, aber eindringlich. Jetzt endlich kannte er die
ganze Wahrheit, und es blieb ihm nur noch, den Mann sicher nach unten zu
bringen. «Los, kommen Sie. Dann können wir miteinander reden.» Morse erklomm
die letzte Stufe. Der Wind zerrte an seinem spärlicher werdenden Haar.
«Wir reden jetzt, Morse, oder gar nicht. Ist das
klar?» Der Mann schwang sich auf die Brüstung zwischen zwei Zinnen und ließ die
Beine baumeln.
«Machen Sie keine Dummheiten.» Morses Stimme
verriet jähes Erschrecken. «Damit ist keinem geholfen, das ist kein Ausweg für
Sie. Was Sie auch sein mögen — ein Feigling sind Sie nicht.»
Mit den letzten Worten hatte er offenbar eine
Saite zum Schwingen gebracht, die noch Klang hatte, denn der Mann sprang
leichtfüßig von der Brüstung herunter.
«Stimmt, Mr. Morse», sagte er ruhig. «Nicht ganz
ungefährlich, sich da hinzusetzen, besonders bei diesem Wind.»
«Nun kommen Sie schon.» Morses Gedanken rasten.
Jetzt kam alles darauf an, daß er das Richtige sagte und tat. Bestimmt gab es
in psychiatrischen Lehrbüchern ein paar Sätze, mit denen sich die Wut eines
rasenden Löwen besänftigen ließ, aber sein Gehirn brachte solche Zauberformeln
nicht zustande. «Kommen Sie», sagte er und als kleine Variante: «Nun kommen Sie
aber.» So abgegriffen diese Worte auch waren — Morse merkte, daß er auf dem
richtigen Weg war. Der Mann zögerte, schien ein wenig vernünftiger zu werden.
«Kommen Sie», wiederholte Morse und tat einen
Schritt. Und noch einen Schritt. Und noch einen. Noch immer stand der Mann
regungslos da, mit dem Rücken an der Wand. Jetzt trennten sie nur noch ein,
zwei Meter. Morse tat den nächsten Schritt. «Nun kommen Sie schon.» Er streckte
die Hand aus wie nach einem Seiltänzer, der einen langen, gefahrvollen Weg auf
dem Drahtseil hinter sich hat und die Sicherheit zum Greifen nah vor sich
sieht.
Fauchend warf sich der Mann auf Morse und packte
ihn mit unentrinnbarem Griff an der Schulter. «Niemand hat mich je einen
Feigling genannt», zischte er. «Niemand.»
Morse gelang es, mit beiden Händen dem Mann in
den Vollbart zu greifen und ihn Zoll für Zoll zurückzuziehen, bis sie beide das
Gleichgewicht verloren und schwer gegen das schräge Bleidach der Turmspitze
fielen. Morse war hilflos unter seinem Angreifer eingeklemmt. Er spürte starke
Hände an seinem Hals, spürte Daumen, die sich tief in sein Fleisch preßten.
Verzweifelt packte er die Handgelenke seines Gegners, konnte vorübergehend dem
furchtbaren Druck Einhalt gebieten. Er hatte die Zähne zusammengebissen, die
Lippen waren verzerrt, die Augen fest geschlossen, als könne er dadurch ein
paar zusätzliche Sekunden Zeit, ein bißchen zusätzliche Kraft gewinnen. Das
Blut klopfte in seinen Ohren, es hörte sich an, als hämmere jemand an eine
schwere Tür, die sich nicht öffnen wollte. Von irgendwoher hörte er ein Klirren
wie von zersplitternden Milchflaschen, er registrierte den Laut kühl und
nüchtern, als arbeite l sein Gehirn unabhängig von dem übrigen Körper,
als betrachte es die Ereignisse mit objektiver Distanz, ohne jede Angst oder Panik.
Er sah die Szene gestochen scharf vor sich. Er fuhr auf der schnellen, schmalen
Geraden von Oxford nach Bicester durch die Nacht, ein Strom von Fahrzeugen kam
ihm entgegen, immer näher, die Scheinwerferpaare schwankten leicht in einer
kontinuierlichen Reihe gelber Kreise, immer näher kamen sie... und dann waren
sie vorbei. Doch da kam ihnen schon wieder ein Fahrzeug entgegen, diesmal auf
der falschen Seite, er blinkte, war schon fast heran... Doch erstaunlicherweise
lagen seine Hände ganz ruhig auf dem Lenkrad... Vielleicht war das eins der
bestgehüteten Geheimnisse des Todes? Vielleicht war die Angst vor dem Sterben,
ja, das Sterben selbst wirklich nur eine große Täuschung... Die Scheinwerfer
wurden zu gelben Scheiben, die in seinem Kopf kreisten, und dann schlug er die
Augen auf und sah nur den bedeckten Himmel über sich. Er hatte die Knie
angezogen, sie berührten den Bauch seines Gegners. Aber das Gewicht, das auf
ihm lag, war so erdrückend, daß er keine Hebelkraft besaß. Wenn er es schaffte,
Arme und Knie zu koordinieren, konnte er den Mann vielleicht doch aus dem
Gleichgewicht bringen, zur Seite rollen und ein paar Sekunden den Hals von dem
Druck dieser erbarmungslosen Hände be- freien. Aber er war mit seiner Kraft
fast
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