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Eine Messe für all die Toten

Eine Messe für all die Toten

Titel: Eine Messe für all die Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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nächsten achtundvierzig Stunden.» Am meisten
beunruhigte ihn der Hinweis auf die wichtige Zeugenaussage. Er selbst schlug
sich schon durch, er brauchte keine Hilfe, aber... Die Entscheidung fiel, wie
immer, spontan. Ja, es mußte morgen geschehen. Morgen vormittag.
     
     
    Und so war es nicht nur Ruth Rawlinson, die
entschied, den Mittwochtreff ausfallen zu lassen. Jemand hatte genau die
gleiche Entscheidung für sie getroffen.
     
     
     

34
     
    Trotz ihrer Sorgen fand Ruth Rawlinson am
nächsten Morgen fünf Minuten nach zehn noch Zeit, die Narzissenschalen zur
Kenntnis zu nehmen und zu bewundern, mit denen die Lampen an der St. Giles
Street geschmückt waren. Aber der heiter-sonnige Morgen vermochte ihre
gedrückte Stimmung nicht zu verscheuchen. Düstere Vorahnungen plagten sie. Die
Situation wurde immer beklemmender. Nachdem sie erfahren hatte, um wen es sich
bei den Toten handelte, die man in St. Frideswide’s gefunden hatte — und da sie
ohnehin viel mehr wußte, als die Polizei ahnen konnte — waren ihre Gedanken
ständig in Aufruhr. Was hinderte sie daran, jetzt gleich über den Cornmarket
und die St. Aldates zum Polizeipräsidium zu radeln? Es war sogar ihre Pflicht.
Moralisch war es schon immer ihre Pflicht gewesen, aber wenn sie sich jetzt
dazu entschloß, war das ein Hilfeschrei in letzter Minute, ehe die Falle über
ihr zuschnappte. Noch vor fünf Minuten, als sie das Haus verlassen hatte, war
sie fest entschlossen gewesen, sofort Morse aufzusuchen und ihm die ganze
traurige Geschichte zu erzählen. Aber dieser Entschluß war mittlerweile schon
wieder ins Wanken geraten. Ich brauche Bedenkzeit, sagte sie sich, brauche noch
eine kleine Atempause, ehe ich mein und dadurch auch Mutters Leben zerstöre.
Sie lehnte ihr Fahrrad neben dem Südportal an die Wand, zog das Fahrradschloß
durch das Hinterrad — und dann sah sie den etwas zu hoch angebrachten Zettel an
der Tür mit dem rot getippten Text. Ohne besondere Überraschung erkennen zu
lassen, ging Ruth Rawlinson zur Tür am Nordportal, die offen stand.
    Aus dem Chefbüro im obersten Stockwerk des
großen Warenhauses, das fast direkt gegenüber stand, verfolgte Lewis Ruths
Bewegungen mit dem Fernglas — so wie er seit Viertel vor neun, als die Tür am
Nordportal aufgeschlossen worden war, die Bewegungen der anderen
Kirchenbesucher verfolgt hatte. Es waren wenige gewesen, und so hatte er es
unerwartet leicht gehabt. Eine Gruppe grell gekleideter Zeitgenossen — von dort
oben hatten sie wie amerikanische Touristen ausgesehen — hatte um 9.10 Uhr die
Kirche betreten. Es waren zehn. Um 9.22 Uhr waren zehn wieder herausgekommen
und in Richtung Radcliffe Square davongegangen. Um 9.35 Uhr war eine einzelne
weißhaarige Dame gekommen und etwa zehn Minuten später nach Absolvierung ihrer
Morgengebete wieder gegangen. Zur gleichen Zeit hatte ein großer, bärtiger
junger Mann mit einem überdimensionalen Kofferradio die Kirche betreten, um
zwanzig Sekunden später wieder vor der Tür zu stehen. Der hat sich in der
Adresse geirrt, dachte Lewis. Dann war Ruth Rawlinson erschienen und in St.
Frideswide’s verschwunden. Fünf Minuten später hatte Lewis die ihm angebotene
Tasse Kaffee akzeptiert, ohne das Nordportal aus den Augen zu lassen. Er hatte
sich nicht einmal umgedreht, um sich zu bedanken. Wenn Morse recht hatte (was
Lewis für wahrscheinlich hielt), konnte dies der entscheidende Zeitpunkt sein.
Aber nach einer halben Stunde kamen ihm doch Zweifel. Sonst war niemand
dagewesen, wenn man von einem unverdächtig wirkenden weißen Terrier absah, der
sein Bein an der Westwand gehoben hatte.
     
     
    Von den Narzissen auf den Altarstufen waren
einige nicht mehr sehr ansehnlich. Ruth nahm sie heraus, ordnete die übrigen
neu und nahm sich vor, noch ein paar nachzukaufen. Sie ging dann, abwechselnd
nach rechts und nach links sehend, an den Bänken des Hauptschiffes entlang,
hängte herumliegende Kniekissen an ihre Haken, wischte mit einem gelben
Staubtuch die Banklehnen ab und sammelte Gesang- und Gebetbücher ein. Einmal
sah sie neugierig zu dem Mauerwerk über dem Südportal hoch, konnte aber keine
Anzeichen von Baufälligkeit entdecken.
    Morse beobachtete sie mit gemischten Gefühlen.
Er betrachtete ihre großen Augen, ihre vollen, sinnlichen Lippen und dachte
wieder einmal, wie attraktiv sie für ihn hätte sein können. Selbst ihre kleinen
Angewohnheiten fand er liebenswert — wie sie eine lose Haarsträhne aus dem
Gesicht blies, wie sie, die Hände

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