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Eine Messe für all die Toten

Eine Messe für all die Toten

Titel: Eine Messe für all die Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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Hand umfaßte leicht
ihre Schulter. (Morse sah, daß die Fingernägel sauber und gepflegt waren, sie
erinnerten ihn an die Hände eines Geistlichen.)
    «Du hast den Artikel gelesen», sagte sie tonlos.
Es war keine Frage.
    «Wir haben beide den Artikel gelesen.»
    «Du mußt mir die Wahrheit sagen. Hast du...»
Ihre Stimme schwankte. «...hast du etwas damit zu tun?»
    «Ich? Soll das ein Witz sein? Das kannst du doch
nicht von mir glauben, Ruth.» (Morse erkannte jetzt, daß der Mann schmuddelige
graue Hosen und einen khakifarbenen Pullover mit ledernen Schulterstücken und
hohem Halsansatz anhatte, so daß nicht zu erkennen war, ob er einen Schlips
trug.)
    Ruth hatte sich vorgebeugt, die Ellbogen auf die
Lehne der Vorderbank gestützt, den Kopf in den Händen. Es sah aus, als bete
sie. Vielleicht tat sie das wirklich. «Du sagst mir nicht die Wahrheit. Du hast
sie umgebracht. Alle. Ich weiß es.» Sie war wie eine verlorene Seele in ihrem
ausweglosen Jammer. Morse spürte tiefes, brennendes Mitleid, aber er zwang
sich, noch abzuwarten. Am Tag zuvor hatte er die Wahrheit hinter der grausigen
Serie der Todesfälle geahnt — und jetzt, wenige Meter von ihm entfernt, saß
jemand, der ihm diese Ahnung bestätigen würde.
    Der Mann leugnete die Vorwürfe nicht. Er griff
sich mit der rechten Hand an den Hals und wandte das Gesicht ab. (Es war, wie
Morse vorhin gesehen hatte, das Gesicht eines Mannes von Ende Vierzig oder
Anfang Fünfzig, durch das lange, ungepflegte, fast schwarze Haar und den
Vollbart zogen sich zahlreiche weiße und graue Strähnen.)
    Das also war die Erklärung. Es war alles sehr
einfach. So einfach, daß Morse es vom Verstand her zunächst nicht hatte glauben
wollen und die abwegigsten, verwickeltsten Lösungen gesucht hatte (und auch
fast gefunden hätte). Wer war der Mann neben Ruth Rawlinson? Na, Morse, wird’s
bald? Ja, natürlich: Es war Lionel Lawsons Bruder, Philip Lawson. Eine Figur,
mit der die besseren Krimi-Autoren nichts anfangen können, ein Mann, für den Morse
nur Verachtung übrig hatte. Ein Mann, der ein nicht sehr gescheites Verbrechen
um des geringsten Lohnes willen begangen hatte. Ein Herumtreiber und Parasit,
der von Jugend an dem leidgeprüften Bruder das Leben schwergemacht hatte. Und
der doch der Aufgewecktere, Beliebtere gewesen war. Ohne Moralbegriffe
aufgewachsen, hatte er seine guten Anlagen durch ausschweifendes Leben
verschüttet und sich dann wieder an seinen armen Bruder Lionel gehängt, dessen
Schwächen er nur zu gut kannte und die er öffentlich preiszugeben drohte, was
Lionel durch Milde und Güte und zweifellos auch materielle Zuwendungen zu
verhindern gesucht hatte. Ja, und dann hatte eines Tages Lionel die Hilfe
seines nichtswürdigen Bruders gebraucht und war bereit, ihn großzügig dafür zu
bezahlen. Gemeinsam hatten die beiden Brüder den Mord an Harry Josephs geplant
und ausgeführt — genau in dem Augenblick, als Paul Morris alle Register gezogen
und brausend den letzten Vers von «Ehre sei Gott in der Höhe» oder ähnlichem
angestimmt hatte. Fortissimo.
    Das waren die Gedanken, die Morse durch den Kopf
schossen, während der Mehrfachmörder vor ihm saß, den linken Arm auf die
Banklehne gestützt, die rechte Hand noch immer an seinem Hals, neben sich noch
immer in Gebetshaltung Ruth, die so rührend verletzlich wirkte.
    Doch dann spürte Morse, wie sich seine Muskeln
spannten und Adrenalin durch seinen Körper schoß. Der Mann hatte das schmale
Ende einer Krawatte in der Hand, einer dunkelblauen Krawatte mit breiten
scharlachroten Schrägstreifen, flankiert von schmaleren Streifen in Grün und
Gelb. Und Morses dahinrasende Gedanken stoppten jäh, machten einen Salto
rückwärts und waren einen Augenblick von dem Aufprall wie betäubt.
    Und dann war für Gedanken keine Zeit mehr. Der
Mann hatte der Frau den Schlips mit der Linken um den Hals gelegt, schon griff
die Rechte nach — und Morse handelte. Es war Pech, daß die niedrige Tür des
Beichtstuhls nach innen aufging. Er mußte in dem engen Raum mühsam
herumklettern, und bis er draußen war, hatte er den Überraschungseffekt
verschenkt. Ruth stieß einen gellenden Schrei aus, als die Schlinge um ihren
Hals sich fester zog.
    «Stehenbleiben», fauchte der Mann. Er sprang auf
und zerrte Ruth mit sich. Der Schlips schnitt ihr tief ins Fleisch. «Ist das
klar? Keinen Schritt weiter, sonst —»
    Morse hörte ihn kaum. Er machte einen
verzweifelten Satz auf die beiden zu, Ruth stürzte schwer in den

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