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Eine Mittelgewichts-Ehe

Eine Mittelgewichts-Ehe

Titel: Eine Mittelgewichts-Ehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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als kostete sie Suppe. Sie malte sich einen dünnen, bärtigen Mann aus, der mehr wie Mitte Dreißig als siebenundzwanzig aussah. In Amerika hatte sie nicht einen graduierten Studenten je zweimal angeschaut, und sie konnte sich einen graduierten Wiener Studenten beim besten Willen nicht vorstellen. Einen Grad in was? Einen Doktortitel in unbedeutender Malerei?
    Die Sonne fiel nur mehr auf die obere Reihe der Cupidos an den alten Gebäuden am Opernring. Sie würde einen Mantel tragen müssen. Sie hatte Lust, einen zu kaufen, aber sie erinnerte sich, daß österreichische Kleidung entweder aus Leder oder aus dickem, kratzigem Loden war, also zog sie ihr schwarzes Pariser Cape an. Es war ein bißchen schick; als sie sich darin sah, entschied sie, daß sie doch das Museum of Modern Art in New York vertrat - gerade aus Paris eingeflogen. Was schadete das schon?
    Nach einem kurzen Gang stand sie vor dem Haus in der Schwindgasse, gleich um die Ecke vom Belvedere. Irgendwie war es schon dunkel. Die Straße war klein und kopfsteingepflastert; das Etagenhaus lag gegenüber der bulgarischen Botschaft und neben etwas, was der Polnische Lesesaal hieß; auf halbem Weg die Straße hinunter war ein düsteres Kaffeehaus von verblichener Eleganz. Sie las die messingnen Namensschilder in der Eingangshalle des Etagenhauses in der Schwindgasse und klingelte auf dem ersten Treppenabsatz. »Say-vah-rin«, flüsterte sie vor sich hin. Sie reckte das Kinn, darauf gefaßt, aufblicken zu müssen, wenn er die Tür aufmachte; sie hatte entschieden, daß er dünn, bärtig und hochgewachsen sein würde. Zu ihrer Überraschung mußte sie leicht nach unten blicken. Der Junge in der Tür war glattrasiert und trug Turnschuhe, Jeans und ein T-Shirt; er sah wie der geschmackloseste amerikanische Tourist in Europa aus. Er trug ein schreiendes College-Buchstabenjackett, schwarz mit Lederärmeln und einem dicken, übergroßen goldenen »I« auf der Brust. Amerikanischer Barock, dachte Edith. Offenbar war er ein Freund aus Severin Winters College-Tagen.
    »Wohnt hier Severin Winter?« fragte Edith, keineswegs sicher.
    »Klar wohn ich hier«, sagte Severin; er hüpfte in der Tür nach hinten, mehr wie ein Boxer, der einen Gegner narrt, damit er ihm nachsetzt, als ein Mann, der jemanden hereinbittet. Aber sein Lächeln traf sie völlig unvorbereitet. Es war jungenhaft und war es doch nicht, und sie bemerkte den einen schiefen Zahn mit der bis aufs Zahnfleisch herausgeschlagenen, keilförmigen Lücke. Im Licht hinter ihm sah sie, daß sein Haar dicht und flauschig und sauber war. Es ist ein Bärenbaby, dachte sie, als sie hineinging.
    »Mein Name ist Edith Fuller«, sagte sie und war überrascht, wie befangen sie sich in seiner Gegenwart fühlte. »Ich bin hier, um mir die Bilder Ihres Vaters anzusehen. Sie haben doch an das Museum of Modern Art geschrieben?«
    »Ja, ja.« Er lächelte. »Aber ich hätte nie gedacht, daß sie wirklich eins wollen. «
    »Nun ja, ich bin hier, um sie mir anzusehen«, sagte sie, und es war ihr peinlich, daß sie so kühl klang.
    »Abends? Sieht man sich in New York Bilder nicht bei Tageslicht an?« fragte er. Sie fühlte sich verwirrt; dann erkannte sie, daß er sie aufzog; er steckte voller Späße, dieser Bär, und sie lachte. Sie betrat ein Wohnzimmer mit so vielen Bildern überall, daß sie nicht eins davon sah. Es war ein Zimmer mit mindestens vier Türen, die überallhin abgingen, und es war vollgestopft mit Büchern, Fotografien und Gegenständen von höchst eigenartigem Geschmack. Sie argwöhnte, daß das Wohnzimmer nur die Spitze eines Eisbergs war - ein Hügel eines Kontinents. Es war soviel Zeug in dem Zimmer, daß sie die Leute nicht bemerkte, und als ihr klar wurde, daß er sie vorstellte, zuckte sie leicht zusammen. Da war eine Frau, die neunundvierzig oder zweiundsechzig hätte sein können; sie trug ein schlampiges, schulterfreies Gewand, das auf eine Weise gerafft und gegürtet und geschlitzt war, die Edith nicht ergründen konnte - als sei es hastig aus einem Jugendstil-Bettlaken gemacht worden. Das war Frau Reiner. »Eine Freundin meiner Mutter«, sagte Severin Winter. »Sie war auch Modell.« Frau Reiners tiefgefurchtes Gesicht, ihr riesiger Mund und ihre trübe Haut waren alles, was Edith im Hinblick darauf beurteilen konnte, was Frau Reiner als Modell vorzuweisen hatte; ihr Körper verlor sich in ihrem kunstvollen Gewand.
    Dann kamen zwei einander fast wie Zwillinge ähnelnde Männer, deren Namen so

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