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Eine Mittelgewichts-Ehe

Eine Mittelgewichts-Ehe

Titel: Eine Mittelgewichts-Ehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Spekulation. Severin pflegte zu sagen, daß die Vergangenheit der Frau »sich auf ihrem Gesicht offenbarte wie eine frische Sünde«; ihr Unfall sei zweifellos eine Liebeswunde; mit Mitte Dreißig habe sie mehr gelebt als jeder andere; der Unfall sei wahrscheinlich auf der Bühne passiert, während sie mit ihrem ersten Liebhaber tanzte, und eine eifersüchtige Frau im Publikum (die, eigens zu diesem Zweck, monatelang Schießunterricht genommen habe) habe ihr präzise den linken Fuß abgeschossen, damit sie nie wieder graziös sein würde. Sie sei immer noch eine schöne Frau, behauptete Severin, komme sich aber wegen ihrer Unbeholfenheit häßlich vor. »Tänzerinnen sind auf Grazie bedacht«, sagte Severin. Daß er sie für schön hielt, war für fast jedermann eine Überraschung; niemand sonst hielt sie auch nur für sehr attraktiv (Edith bezeichnete sie als »neurasthenisch«). Aber Severin behauptete, ihre Schönheit liege in ihrer Grazie, die in ihrer Vergangenheit liege. Er behauptete, er könne die Vergangenheit eines Menschen lieben. Wir Verfasser historischer Romane sind selten so sentimental.
    Als Severin Winter Audrey Cannon tanzen sah, muß er sich vorgestellt haben, sie sei von einer hypnotischen Kraft besessen. Es war kein Krüppel, der da auf seinen Ringermatten tanzte. Doch als die Bandaufnahme endete, widerfuhr ihm ein weiterer Schock: sie sackte mitten auf der Matte zu einem säuberlichen Bündel zusammen, schwer und tief atmend, und als sie sich soweit erholt hatte, daß sie aufstehen konnte, humpelte sie als die verkrüppelte Frau, die sie vorher gewesen war, auf den Recorder in der Ecke zu.
    Sie war eine äußerst zurückgezogene Frau in einem Moment äußerster Zurückgezogenheit, und als sie Severin erstarrt an der gepolsterten Wand lehnen sah, schrie sie. Aber Severin hüpfte auf die Matte hinaus und rief: »Ist schon gut, ist schon gut, ich bin's bloß - Severin Winter. Miss Cannon? Miss Cannon?«, während sie zusammengekrümmt auf der Matte kauerte und sich zweifellos fragte, was ihr Tanz ausgelöst hatte.
    Sie redeten lange miteinander. Er hatte sie vollkommen wehrlos ertappt, und sie mußte ihm von ihrem ganzen Leben erzählen; sie hatte das Gefühl, als habe er ihr ganzes Leben gesehen. Er wollte Edith oder mir nie erzählen, was dieses »ganze Leben« war. Er blieb diesem intimen Geständnis treu. »Ich finde, wenn ein zurückgezogener Mensch einem alles erzählt, dann ist man auf eine Weise aneinander gebunden, die eigentlich keiner gewollt hat«, sagte er. Aber Edith erinnerte ihn böse daran, daß er Audrey Cannon schon immer schön gefunden habe; er habe schon vor ihrer dramatischen Begegnung Gefühle für sie gehabt. Ich habe ihn das nie abstreiten hören.
    Audrey Cannon konnte auf Ringermatten tanzen, weil sie weich waren; sie gaben unter ihrem geringen Gewicht nach und störten ihr Gleichgewicht nicht so, wie ein normaler Untergrund das getan hätte. Es war natürlich eine Illusion. Ich glaube, sie konnte wegen der Trance, in die sie sich versetzte, auf Ringermatten tanzen; ich bin der Meinung, daß Severin Winters Ringerhalle Trancen auslöste. Sie sagte, sie habe dort das Tanzen wieder erlernt. Harvey, der Nachtwächter, habe eine Ausnahme für sie gemacht.
    »Aber wir haben bloß geredet!« beharrte Severin.
    »In dieser ersten Nacht hat sie bloß mit mir geredet. Wir haben die ganze Nacht geredet.« Keine Sauna, kein Schwimmen? »Nein! Bloß geredet ...«
    »Und das ist die schlimmste Art von Untreue«, sagte Edith. Natürlich; genau das störte Severin an Ediths Beziehung zu mir am meisten.
    In dieser ersten Nacht also passierte nichts Intimeres als Geschichtenerzählen - außer daß sie Severin ihren verkrüppelten Fuß zeigte, den muskulösen Rest mit dem hohen Spann, an dem der Fußballen und die drei größten Zehen fehlten. Lieber Himmel, was für eine makabre Geschichte! Eine Tänzerin mit verstümmeltem Fuß!
    Und er erzählte ihr die Vorgeschichte, die er sich über sie ausgemalt hatte. Erzählte er ihr auch, daß er sie schon immer für schön gehalten hatte? »Nein!« rief er. »So war das nicht. Ich war eben einfach da ... zum Zuhören.« Nun ja, es war keine eifersüchtige Frau, die ihr die Zehen abgeschossen hatte. Audrey Cannon hatte sich vor Jahren den linken Fuß abgekantet, als sie in Sandalen ihren Rasen mähte; sie zog sich einen Motorrasenmäher mit rotierendem Blatt über den Fuß. Er schnitt ihr die ersten drei Zehen glatt ab, zermalmte den vorletzten

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