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Eine Mittelgewichts-Ehe

Eine Mittelgewichts-Ehe

Titel: Eine Mittelgewichts-Ehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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und riß ihr fast den ganzen Fußballen weg. Es blutete so stark, daß sie gar nicht merkte, daß etwas fehlte. Als man es ihr im Krankenhaus sagte, war sie überzeugt, daß irgendein übereifriger Arzt ihr alles zu überstürzt amputiert hatte.
    Ich glaube, ich kenne den Teil der Geschichte, der Severin bis in seinen merkwürdigen Kern berührt haben muß. Als sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde, war ihr Rasenmäher draußen im Garten, wo sie ihn hatte stehen lassen, und daneben lag ein durchtrennter Sandalenriemen. Und als sie unter den Rasenmäher schaute, waren dort ihre Zehen und ihr Fußballen, der wie ein halbierter Pfirsich aussah. »Ihre alten Zehen!« sagte Severin. »Und weißt du was? Sie wimmelten von Ameisen.«
    Mein Gott, was für eine Liebesgeschichte.
    »Aber wenn ihr bloß geredet habt in dieser ersten Nacht«, sagte ich, »warum hast du's dann Edith nicht erzählt, als du nach Hause gekommen bist? Du hast nie ein Wort gesagt.«
    Es bereitet Severin Unbehagen, an einen Vorsatz von seiner Seite zu glauben. Aber er muß gewußt haben, daß sich später mehr ergeben würde als Gespräche. Ich glaube, er wußte es schon damals, als er nichts über sie wußte, außer daß sie für ihn schön war.
    So was wissen wir immer.
    Trotzdem betont er gern, daß er nach dieser ersten Begegnung das Fahrradfahren wiederaufnahm. Obwohl er wußte, daß sie in seiner Ringerhalle war, wenn er vorbeiradelte und das Licht sah, radelte er weiter, erreichte wild strampelnd immer weiter entfernte Städte und gestattete es sich nicht, die Ringerhalle eher als zu seiner gewohnten Stunde vor Morgengrauen zu erreichen, wenn Audrey Cannon schon lange nach Hause gehumpelt sein würde. Es war doch nichts Schlimmes an seiner Gewohnheit, nach Spuren von ihr zu suchen? Kleine, warme Abdrücke in der Matte. Ihr dunkles Haar in der Sauna. Ein noch nicht von der Oberfläche des Schwimmbeckens verschwundenes Gekräusel.
    Morgens, wenn er nach Hause zu Edith radelte, nahm er die Route vorbei an Audrey Cannons kleinem Apartment. Bloß um nachzusehen, ob ihr Auto vorschriftsmäßig geparkt war? Um nachzusehen, ob ihr Rouleau richtig heruntergezogen war?
    Was für ein Narr. Ich bin vertraut mit den Methoden, uns etwas einzureden. Eine Methode besteht darin, so zu tun, als würden wir es uns ausreden. Severin kann mir den ganzen Tag erzählen, er sei nicht wie ich. (»Ich habe mich in sie verliebt!« hat er gerufen. »Ich war nicht darauf aus, auf die übliche Tour ein Stück Hintern aufzureißen und eine Nummer zu schieben, so wie du!«) Aber ein Teil von ihm wußte, worauf er sich einließ. Er kann Euphemismen benutzen, soviel er will. Es bleibt die Tatsache, daß er eines Nachts an der Sporthalle vorbeiradelte und die Pedale nicht weitertreten konnte. Bei dem Gedanken an eine noch weiter entfernte Stadt wurde ihm schwach ums Herz. Er umkreiste den alten Käfig, er stand zwischen den dunklen Bäumen, er kauerte bei den sanft wehenden Reihen von Tennisnetzen, er scharrte auf dem Baseballfeld Erde auf, aber er endete immer wieder dort, wo er angefangen hatte. Natürlich hatte er das Radfahren plötzlich satt; außerdem hatte er - reiner Zufall, natürlich - in dieser Nacht nicht mit Edith geschlafen, ehe er aufbrach.
    Und duschte er im Umkleideraum, ehe er in einen sauberen Mantel schlüpfte? Darauf würde ich wetten. Und war es einfach Nachlässigkeit, die ihn veranlaßte, sich unter dem Mantel leicht anzuziehen? Als er die Tür hinter sich zuschob, sah er, daß Audrey Cannon nicht tanzte. Schumann spielte, aber sie ruhte sich aus. Oder meditierte? Oder wartete darauf, daß Severin Winter sich entschloß? Und sagte er: »Ah, hm, ich wollte fragen, ob ich Ihnen beim Tanzen zusehen darf?« Und kam Audrey Cannon stolpernd auf ihre anderthalb Füße?
    Es gab eindeutig Positionen, in denen ihre verlorenen Zehen kein Verlust waren.
    Soviel zum Radfahren; soviel zu Severins sagenhafter Ausdauer. Wenn er jetzt zu Edith nach Hause kam, war ihm nicht danach zumute, mit ihr zu schlafen. Er war in zu weit entfernte Städte gestrampelt, hatte neue Zeitrekorde aufgestellt. Wenn er jetzt nach Hause kam, schlief er bis zum Mittag. Wie lange, meinte er, würde Edith sich das gefallen lassen?
    Ich glaube nicht, daß er irgend etwas klar sah. Außerhalb der Ringerhalle, in der wirklichen Welt draußen, fehlte es ihm an Scharfblick. Unter der monderleuchteten Kuppel, innerhalb der auf die Ringermatten gemalten Kreise, sah, dachte und handelte er klar, aber

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