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Eine Mittelgewichts-Ehe

Eine Mittelgewichts-Ehe

Titel: Eine Mittelgewichts-Ehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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zurück zu sein. Dann stellte er sich auf 40-Meilen-Spritztouren ein. Aber stets hielt er vor dem Morgengrauen in der Ringerhalle eine Stunde lang Tiefschlaf.
    Edith hatte nichts dagegen. Er schlief mit ihr, ehe er aufbrach, und war wieder zu Hause, ehe sie wach war; von der Sauna und vom Schwimmen frisch, weckte er sie oft zärtlich auf, indem er noch einmal mit ihr schlief. Einmal in der Woche brach sein Schlafmangel über ihn herein, und er verfiel nach dem Abendessen in einen Dämmerzustand und döste bis Mitte des nächsten Tages im Haus herum. Aber das war lediglich sein Körper, der wußte, was er brauchte.
    Nach dem, was er erzählte, war bis zu der ersten Nacht, in der er nach Mitternacht an dem alten Käfig vorbeiradelte und in der Ringerhalle Licht brennen sah, alles in Ordnung. Zunächst dachte er, es sei ein Versehen des Nachtwächters, obwohl da ein ihm unbekanntes Auto stand. Severin Winter war auf dem Weg in einen anderen Landkreis und dachte, er würde sich um das Licht kümmern, wenn er die Ringerhalle später zu seinem Morgennickerchen aufsuchte. Aber er war noch nicht viel weiter geradelt, als das Licht ihn zu beunruhigen begann und er umkehrte. Wer auch immer nach Mitternacht in der Ringerhalle war, hatte sicher etwas Nichtsportliches vor. Er stellte sich vor, was für ein Spaß es wäre, ein Judo-Paar, die blöden, pyjama-artigen Anzüge überstürzt abgeworfen, beim Kopulieren auf der Matte zu erwischen.
    Er wollte geradewegs in die Halle gehen, doch dann dachte er, er hätte vielleicht mehr Autorität, wenn er sich für die Rolle, die er gleich spielen würde, umzöge, und so warf er sich in volle Ringermontur. Während er sich verstohlen zum Tunnel schlich, nahm er sich vor, dem Nachtwächter Bescheid zu stoßen. Nicht einmal dem Lehrkörper war es gestattet, sich nach 22 Uhr in der Sporthalle aufzuhalten, und da Severin der einzige Mensch im Sportinstitut war, der die Einrichtungen zu so merkwürdigen Zeiten benutzte, hatte er wahrscheinlich das Gefühl, sein Monopol sei bedroht.
    Er pirschte wie ein Raubtier um die alte Holzbahn, und an der geschlossenen Tür zur Ringerhalle schienen sich seine Vermutungen zu bestätigen: da drin spielte Musik. Severin war ein gebildeter Wiener; er erkannte Schumanns »Papillons«. Zumindest hatten die Eindringlinge Geschmack, dachte er. Er konnte sich nicht vorstellen, was für ein obszöner Karate-Akt ihn erwartete, was für ein unheimlicher Ritus drinnen im Gange war! Leise ließ er den Schlüssel ins Schloß gleiten. Plötzlich gespannt, fragte er sich, was jemand zur Begleitung von Schumann tun könnte.
    Ganz allein tanzte eine kleine, dunkle Frau in glattem schwarzem Trikot. Sie war winzig, sehnig, angespannt; ihre Bewegungen so anmutig und nervös wie die einer Antilope. Sie bemerkte nicht, wie er hereinschlüpfte und die Tür hinter sich zuschob. Sie arbeitete sehr hart zu einer eindringlichen Stakkato-Passage. Schweiß tränkte ihren biegsamen Körper; ihr Atem war schwer, aber tief. Der Schumann kam aus einem tragbaren Kassettenrecorder; der lag, ordentlich beiseitegestellt, auf einem Stapel Handtücher in der Ecke, während sie in einer sportlichen Interpretation, die schon an Kunstturnen heranreichte, die Halle durchmaß. Severin lehnte sich an die gepolsterte Wand der Ringerhalle, als sei sein Rückgrat gegen Schumann empfindlich.
    Er wußte, wer sie war, aber da stimmte etwas nicht; er wußte auch, daß sie verkrüppelt war. Sie hieß Audrey Cannon; sie war Dozentin für Darstellende Kunst und so etwas wie eine Metapher für alles, was ironisch und unwahrscheinlich war. Sie war eine ehemalige Tänzerin, die Tanz unterrichtete, aber sie war eine tragisch ungraziöse, sogar unbeholfene Person, deren Karriere durch irgendeinen mysteriösen Unfall, über den nie gesprochen wurde, ruiniert worden war. Sie humpelte - ja klumpte über den Campus. Die Art, wie sie als Metapher benutzt wurde, war grausam; über ein lächerliches Vorhaben etwa mochte jemand witzeln: »Das ist ungefähr so sinnvoll, wie wenn Audrey Cannon mir das Tanzen beibringt.«
    Sie war eine alleinstehende Frau, hübsch und klein, aber so scheu und befangen und scheinbar entstellt, daß niemand viel über sie wußte. Sie lehnte Einladungen zu Partys ab und fuhr jedes Wochenende in die Stadt; man nahm an, daß sie dort einen Liebhaber hatte. Edith behauptete, die beste Geschichte über Audrey Cannon sei von Severin erfunden worden. Die Geschichte war nicht bösartig; sie war reine

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