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Eine Mittelgewichts-Ehe

Eine Mittelgewichts-Ehe

Titel: Eine Mittelgewichts-Ehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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er ließ seinen Verstand zurück, sobald er seine Kleider in seinen Spind hängte.
    Severins Gefühle und Angste lagen stets so offen wie Geschwüre; er konnte nichts verbergen. (»Ich bin kein guter Lügner, wenn du das meinst«, sagte er mir.
    »Ich habe nicht dein Talent.«) Er mußte gewußt haben, daß Edith es herausfinden würde. Wie lange, meinte er, würde sie glauben, daß er die ganze Nacht im Regen radelte? Und nach Thanksgiving schneite es. Eine Weile dachte sie, Severin fröne bloß seinem Masochismus - das letzte Aufbäumen eines Ringers auf dem absteigenden Ast, ein weiteres Glanzstück an alberner Zähigkeit.
    Was hätte sie noch wundern sollen, als er den AirForce-Überlebensanzug kaufte, den hellorangefarbenen, aus einem Stück gefertigten Sack mit Reißverschluß, dafür vorgesehen, im Ozean zu treiben oder Temperaturen unter Null zu widerstehen? Das schöne weiße Rad kam verbogen, verrostet, die wichtigen Teile knirschend, zurück. Tagsüber reparierte und ölte Severin es. Er hängte in der Küche eine Landkarte auf - angeblich von allen Straßen, die er befahren hatte. Daß er zu müde war, um mit ihr zu schlafen, wenn er zurückkehrte, war verständlich; daß er oft zu erregt war, um mit ihr zu schlafen, ehe er aufbrach, war für Edith etwas schwerer zu ertragen. Und was war das für eine Musik, die er durchs Haus pfiff?
    Obwohl alle seine Ringer ihre Nägel kurz halten sollten, waren einige schlampig, und so war Edith an gelegentliche Kratzer auf seinem Rücken oder seinen Schultern gewöhnt. Aber nicht auf seinem Hintern; diese Kratzer waren von ihr, und von sonst niemand. Und allmählich war sie sicher, daß sie nicht von ihr waren.
    Zweimal sagte sie sogar versuchsweise, scherzhaft, mit echter, aber verhehlter Angst, zu ihm: »Manchmal ist es, als hättest du eine Geliebte.«
    Ich weiß nicht, was seine Antwort war, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß er ungezwungen antwortete.
    Was ihr schließlich Gewißheit gab, war die Art, wie er mit den Kindern war. Er brauchte zu lange, um sie ins Bett zu bringen, erzählte ihnen zusätzliche Geschichten, und oft fand sie ihn, nachdem sie eingeschlafen waren, in ihrem Zimmer stehen, wie er sie einfach anstarrte. Einmal weinte er. »Sind sie nicht schön?« sagte er. Sie erkannte den Ausdruck in seinen Augen: er sagte ihnen Lebewohl, doch gleichzeitig brachte er es nicht über sich.
    In der Nacht des großen Dezemberschneesturms erwachte Edith, wie die Rolläden knatterten, die Sturmtür knallte und der Wind unter der Dachrinne heulte wie sich paarende Katzen. Die Bäume schienen vornüber gekrümmt zu sein. Sie bezweifelte, daß man bei solchem Wetter ein Fahrrad auch nur aufrechthalten konnte. Es war 3 Uhr morgens, als sie es schaffte, das Auto in der Auffahrt freizubekommen, und die verschneiten Straßen hinunterschlitterte. Sie hatte das mit der Ringerhalle, der Sporthalle, der Sauna und dem Schwimmen immer geglaubt; sie konnte das Chlor in seinem Haar riechen, wenn sie ihn nach anderen Düften beschnupperte. Sie sah das Licht in der Ringerhalle brennen. Sie erkannte auch das geparkte Auto; auf dem Armaturenbrett lag ein Paar Ballettschuhe. Die Schuhe hatten nicht die gleiche Größe, aber das galt auch für Audrey Cannons Füße.
    Sie saß in ihrem Auto, die Windschutzscheibe vereiste, und über ihr hockte der riesige Klotz der neuen Sporthalle. Ironischerweise dachte sie, wie böse Severin ihr sein würde, weil sie die Kinder in einer solchen Nacht um diese Zeit allein gelassen hatte. Sie fuhr nach Hause. Sie rauchte im Wohnzimmer und spielte eine Schallplatte; sie rauchte im Schlafzimmer, wo sie Severins Zweitschlüssel-Ring fand. Da war der AutoZweitschlüssel, der Haus-Zweitschlüssel, der Sporthallen-Zweitschlüssel und schließlich der Ringerhallen-Zweitschlüssel ...
    Sie wollte nicht dorthin gehen. Gleichzeitig stellte sie sich vor, wie sie ihnen gegenübertreten würde. Sie wollte nicht die Tür zur Ringerhalle aufschieben und sie dabei erwischen; andererseits stellte sie sich verschiedene Schocks vor, die sie ihnen versetzen könnte. Sie würden um die alte Holzbahn herumlaufen - humpelte sie immer? Würden sie etwas anhaben? -, und Edith würde, auf eine Konfrontation lossteuernd, um die Bahn herum auf sie zurennen.
    Nein. Sie zündete sich noch eine Zigarette an.
    Sie stellte sich vor, wie sie sie im Tunnel erwischen würde. Bestimmt würde er seine verstümmelte Tänzerin durch den Tunnel führen; er gab immer an. Mitten im

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