Eine Nacht in Bari
allem bin ich aber ein Arschloch. Entschuldige. Entschuldigt mich alle beide. Ich habe mich unmöglich benommen, ich weiß nicht, was in mich gefahren ist.«
Dann senkte er den Kopf, als denke er über das nach,
was er gesagt hatte und was er noch hinzufügen wollte. Er entschied sich ziemlich schnell.
»Das ist nicht richtig. Ich weiß ganz genau, was in mich gefahren ist. Und ich schwöre, dass ich mich dafür schäme.«
Giampiero ging zum Auto und setzte sich auf die Kühlerhaube. Er sah merkwürdig gefasst aus, wie jemand, der in einem ganz normalen Gespräch eine kurze Pause macht.
Paolo blieb stehen.
Ich blieb stehen.
Wir wirkten wie drei Schauspieler auf einer absurden Bühne, die auf ihr Stichwort warten.
Es war wie ein Stück, bei dem nach einer unerwarteten Wendung die Beziehungen wechseln und die Hierarchie sich umkehrt.
»Steigen wir ein«, sagte Giampiero endlich, und wir gehorchten, ohne Fragen zu stellen.
Wir schwiegen, bis wir zur Stadtautobahn kamen. Dann antwortete Giampiero trocken und würdevoll auf die Fragen, die ich – wir – ihm nicht gestellt hatten.
»Es war falsch von mir, ich hätte es euch erzählen sollen. Aber ich schämte mich, und ich schäme mich dafür, mich geschämt zu haben. Sie heißt Benedetta und ist vier Jahre alt. Als sie eineinhalb war, haben wir gemerkt, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Ich habe noch eine Tochter, sie heißt Tiziana und ist wunderschön, sie ist sieben Jahre alt und kerngesund. Es gibt Momente, in denen ich fast verrückt werde. Ich versuche, mit Benedetta zu sprechen, aber sie sieht mich einfach nicht an. Ich versuche,
sie zum Sprechen zu bringen, mit ihr die Übungen zu machen, die der Neuropsychiater ihr verschrieben hat, und sie sieht mich nicht an, sie spricht nicht, macht die Übungen nicht, sondern klettert irgendwo herum, stellt Gegenstände in einer Reihe auf oder macht andere Dinge, die Kinder wie sie eben tun. In solchen Momenten zweifelst du an deiner Liebe, weil keiner da ist, sie entgegenzunehmen. Du denkst, dass du selbst nicht existierst, dass nichts existiert. Gar nichts. Manchmal packt mich der Frust, und die Wut, und dann bekomme ich Lust, sie zu schlagen, meine Tochter. In diesen Momenten denke ich, dass sie vielleicht aufhört mit ihren Launen – so sage ich das dann: ›Hör auf mit deinen Launen‹ – und dass sie sich irgendwann wie ein normales Kind verhält. Ich stelle mir dann vor, dass der ganze Albtraum sich in Luft auflöst und das Leben neu beginnt und dass es dem ähnelt, das ich mir immer ausgemalt hatte. Aber nichts ist so, wie ich es mir vorgestellt hatte.«
Er brach kurz ab, um Luft zu holen.
»Jetzt heißt es, dass Autismus geheilt werden kann, und manchmal denke ich, dass sie womöglich in einem Jahr ein normales Leben führen wird und dass mir das Ganze wie ein Albtraum vorkommen wird. Andere Male denke ich, dass ich irgendwann alt und tiefunglücklich sein werde. Wieder andere Male bete ich zu Gott. Das habe ich nie zuvor getan, aber ich habe gesehen, dass es hilft. Ich fühle mich dann wenigstens eine Weile lang besser. Und eine Weile lang scheint es mir, als hätten die Dinge einen Sinn. Das hält nicht lange vor, und den Sinn
kriege ich auch nicht zu fassen. Aber es hilft. Nachts, wenn ich glaube, ich halte es nicht mehr aus, ziehe ich allein los und hänge seltsamen Gedanken nach. Manchmal dort, wo wir jetzt hinfahren.«
ELF
»Warum schneit es in Bari nie, Mama?«
Es war der 23. Dezember und es regnete seit Stunden, beständig, penetrant, nervtötend. Ich war sieben Jahre alt und fand es nicht besonders schön, in Bari zu leben.
Ich hätte lieber an Orten gelebt, die ich aus amerikanischen Filmen kannte. In Siedlungen mit Häuschen und Gärten, mit Sportanlagen und Schulen im Grünen. In Orten, wo man im Sommer im Fluss badete und im Winter Schnee von der Einfahrt schaufelte und Schneemänner mit Karottennasen baute. In Orten wie dem, an dem Paolo lebte, mit seiner amerikanischen Frau und seinen amerikanischen Kindern und seinen nächtlichen Ängsten.
Als Kind hatte ich nie ein Weihnachtsfest mit Schnee erlebt, und auch später nur zwei, drei Male.
»Wir sind im Süden, das weißt du doch. Da ist es nicht kalt genug«, antwortete meine Mutter und sah kurz von dem Buch auf, in dem sie gerade las.
»Hast du denn schon einmal Weihnachten mit Schnee erlebt?«
Das hatte sie, viele Jahre vorher und nicht in Bari. Ein paar Sekunden lag etwas Verträumtes und Fernes in ihrer Stimme, als sie mir
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