Eine Nacht in Bari
Weise unbeschwert, und die Aussicht auf ein Wiedersehen klang aus seinem Mund falsch und beinahe unheilvoll.
Paolo öffnete die Autotür und stieg wortlos aus. Giampiero sah mich an. Ich zuckte die Schultern, und auch wir stiegen aus.
Paolo hatte begonnen, den Bauzaun zu umrunden, der mit Theaterplakaten und Seiten aus der »Gazzetta del Mezzogiorno« tapeziert war, die längst vergangene Aufführungen kommentierten. Die Artikel stammten alle aus der »Gazzetta«, denn bis das Theater abbrannte – und noch viele Jahre danach – war die »Gazzetta« im Grunde die einzig wichtige Zeitung der Stadt gewesen. Erst ein paar Jahre später folgten dann »Barisera« und die Lokalteile von »La Repubblica« und »Corriere della Sera«.
Der Bauzaun mit den Plakaten und den Kritiken stand dort seit vielen Monaten, aber erst in jener Nacht bemerkte ich ihn.
Nurejew, Barischnikow, Carolyn Carlson, Carla Fracci, Momix, das Bolschoi und auch Pavarotti, Frank Sinatra, Juliette Gréco, Ray Charles, Liza Minelli, Eduardo De Filippo, Zizi Jeanmarie, Maurice Béjart, Herbert von Karajan, Riccardo Muti, Lindsay Kemp, Strehler, Rostropowitsch. Sogar Jerry Lewis, an dessen Auftritt ich mich zu erinnern glaube, war Mitte der Achtzigerjahre nach Bari gekommen.
Es war, als sei innerhalb dieses Zauns ein Geheimgang versteckt, der uns jahrelang mit dem Rest der Welt verbunden hatte, der nach dem Brand jedoch von Schutt, verbrannten Dekorationen und Asche verschüttet worden war. Und durch eine tödliche Katastrophe, natürlich.
Es war mittlerweile wirklich spät und keiner war mehr unterwegs, weder Autos noch Menschen. Giampiero blieb vor Frank Sinatra stehen. Paolo lief vor und zurück
und berührte von Zeit zu Zeit den Zaun und die Plakate, als wolle er ihre Konsistenz prüfen.
Ich las die alten Artikel aus der »Gazzetta del Mezzogiorno« und hing meinen Erinnerungen nach. Es gelang mir jedoch nicht, sie in eine chronologische Reihenfolge zu bringen. In meinem wirren Kopf erschienen mir Ereignisse und Vorstellungen aus grauer Vergangenheit noch ganz frisch, und Dinge, die erst vor kurzem geschehen waren, wie vor langer, langer Zeit passiert.
Wir standen dicht nebeneinander, vor dem Gesicht von Ray Charles.
»In welchem Jahr ist dieser Herr hier aufgetreten?«, fragte Giampiero.
»Im Dezember 1985«, antwortete ich.
»Großartiges Konzert«, sagte Giampiero.
In Wirklichkeit war es gar nicht großartig gewesen. Ray Charles hatte nur eine knappe halbe Stunde gespielt, eine einzige Zugabe gegeben – das heißt ein einziges Lied -, und das Ganze war auf irritierende Weise durchgeplant gewesen. Wir hatten das Theater ziemlich enttäuscht verlassen. Aber es war immerhin Ray Charles gewesen, und es schien mir nicht angebracht, jetzt eine Diskussion über den Kontrast zwischen Mythos, Wahrheit und historischer Erinnerung zu entfachen. Ich wollte hauptsächlich ins Bett. Also lächelte ich, nickte und sagte nichts. Das konnte alles bedeuten.
»Als wir damals aus dem Theater kamen, hast du gesagt, dass das Konzert scheiße war«, erinnerte mich Paolo. Ich hätte gleich erkennen müssen – an seinem Tonfall, seinem Gesichtsausdruck, an allem -, dass er nur einen
Vorwand suchte, um Streit anzufangen. Ich hätte auf keinen Fall darauf eingehen sollen. Aber wenn ich ganz ehrlich bin, suchte auch ich einen Vorwand, wenn auch unbewusst.
»So habe ich es ganz bestimmt nicht gesagt. Ich meine, scheiße und so. Ich gebe zu, dass der Abend etwas enttäuschend gewesen war, aber immerhin: Ray Charles und wir waren nur wenige Meter voneinander entfernt. Es war nur eine kleine kosmetische Korrektur der Erinnerung.«
»Kosmetische Korrektur? Was zum Teufel soll das denn heißen?«
»Darauf kommst du schon selber, wenn du dir ein bisschen Mühe gibst.«
»Scher dich zum Teufel. Warum hast du dich kein verdammtes bisschen geändert in der ganzen Zeit? Warum erzählst du denselben Mist wie damals? Für dich ist immer alles gleich, stimmt’s? Keiner wird alt, keiner wird krank, die Dinge enden nicht. Freundschaft, Liebe, Zuneigung, alles dauert ewig. Auch wenn etwas tragisch verläuft, findet sich immer ein positiver Aspekt an der Angelegenheit. Wenn einer Krebs hat, wird ihn diese Erfahrung sicherlich zu einem besseren Menschen machen. Falls er nicht stirbt, natürlich. Du warst immer schon ein verfluchtes lebendes Handbuch des allerbanalsten Glücks, eines von denen, die im Supermarkt als Mängelexemplare verkauft werden. Du ekelst mich an, du
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