Eine Nacht in Bari
unfähig, Verantwortung zu übernehmen. Sie sagte, du seiest jemand, der angesichts einer schlechten Nachricht einfach das Thema wechselt. Falls
du mit ihren Worten nichts anfangen kannst – sie meinte damit, dass du feige bist. Und dann, und daran erinnere ich mich wortwörtlich, sagte sie, du seiest ein professioneller Lügner, einer der ganz raffinierten, die unschuldig und gefährlich zugleich sind: einer von denen, die überzeugt sind, aus ethischen Gründen zu lügen. Und es in Wirklichkeit aus ureigenstem, scheinheiligem Interesse tun.«
Ich hätte reagieren können. Ich hätte etwas Sarkastisches darüber sagen können, dass Paolo und meine Freundin hinter meinem Rücken diese schmeichelhaften Kommentare über mich ausgetauscht hatten. In den Pausen zwischen anderen, weniger intellektuellen Tätigkeiten.
Aber dazu hatte ich keine Lust. Paolos Worte waren wie ein Scheinwerfer, der bislang unberührte Ecken meines Bewusstseins ausleuchtete. Und ich hatte keine Lust, diesen Scheinwerfer nur deshalb auszuschalten, weil er von Aggressionen angetrieben wurde.
Als Kind hatte ich viel gelogen. Wegen allem Möglichem und zu jeder Gelegenheit. Ich nehme an, dass ich deshalb log, weil ich mich unzulänglich fühlte. Lügen hatte nichts Spielerisches für mich. Ich dachte mir große und kleine, notwendige und überflüssige Lügen aus, weil ich das brauchte. Ich schien das Gefühl zu haben, dass ich sonst nicht weitermachen konnte. Ich hörte auch dann nicht damit auf, als ich erwachsen war. Lügen war meine Art, mit meinem Schrecken über die Welt und meiner Angst vor den anderen fertig zu werden.
Ich hatte eigentlich gedacht, dass ich dieses Geheimnis
gut gehütet hätte, aber in jenem Moment, nachts um drei Uhr vor dem Petruzzelli, merkte ich, dass dem nicht so war. Ich wusste nichts zu erwidern, und ich weiß nicht, ob Paolo seinen Worten noch etwas hinzuzufügen hatte. Vielleicht wollte er mir erzählen, unter welchen Umständen ihm Daria all diese Dinge – und wer weiß, was noch alles – gesagt hatte. Vielleicht würde ich gleich erfahren, dass Daria, während sie sich darüber beklagte, dass ich sie nicht liebte, mit meinem Freund im Bett war und ihm brillante Analysen meiner pathologischen Verlogenheit lieferte.
»Schluss jetzt. Ich kann diesen Unsinn nicht mehr hören. Wenn du damit Probleme hattest, hättest du die Sache damals ansprechen sollen. Aber wenn du den ganzen Müll jetzt rausholst, ziehst du nachträglich alles in die Scheiße.«
Giampiero sagte das mit leiser Stimme. Er klang müde, wie jemand, der merkt, dass er etwas – oder alles – falsch gemacht hat und dass es jetzt zu spät ist, um es wieder rückgängig zu machen. Er klang mutlos, traurig und auf einmal überraschend erwachsen und ernst.
Paolo sah ihn erstaunt an, wie einen Untergebenen, den man normalerweise von oben herab behandelt und der sich zu viel herausnimmt.
»Probleme? Was zum Teufel weißt du schon über Probleme? Was für Probleme hast du denn je gehabt, abgesehen davon, welches Auto du dir als nächstes kaufen oder auf welcher Insel der Malediven du Urlaub machen sollst?«
Giampiero sah ihn an und atmete dann tief durch.
»Du willst wissen, welche Probleme ich außer Autos und dem Maledivenurlaub habe? Meine Tochter ist autistisch. Reicht dir das?«
Die Szene gefror zu einem unerträglichen Standbild. In meinem Kopf fügten sich die Worte eines Songs zusammen. La bottiglia spezzata, il liquore versato. Die Flasche zerbrochen, der Schnaps ausgelaufen.
Es tut mir leid, es tut mir so leid; nicht einmal ich wusste, dass du eine autistische Tochter hast. Du hast es mir nie erzählt, nicht einmal mir, die Male, die wir uns gesehen haben. Ich habe gelesen, dass es Hoffnung gibt, Autismus zu heilen, dass die Forschung schon sehr weit ist. Bestimmt wird deine Tochter gesund. Wie alt ist sie denn? Hast du noch mehr Kinder? Mein Gott. Ich sage nie »Mein Gott«, aber jetzt sage ich es. Wie alt ist das Mädchen? Wie heißt sie? Entschuldige, dass ich immer das gedacht habe, was Paolo jetzt ausgesprochen hat. Entschuldige unsere erbärmliche Arroganz, unsere Herablassung. Entschuldige uns beide, wir sind arrogante Arschlöcher, Scheißstreber.
Das sagte ich natürlich nicht. Ich sagte gar nichts, denn ich war wie gelähmt vor Verlegenheit und Scham.
Das Schweigen dauerte, solange es dauern musste, und wurde von der beinahe nicht wiederzuerkennenden Stimme Paolos unterbrochen.
»Das tut mir leid. Ich bin betrunken. Vor
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