Eine Nacht zum Sterben
Nicht die geringste Kleinigkeit. Immer war es so gewesen. Lange Zeit passierte überhaupt nichts, und dann kam plötzlich irgendwas an die Oberfläche, und der Tag hätte siebenundzwanzig Stunden haben müssen.
Er ging in das kleine Vorzimmer am Ende des engen Korridors. Jean Frazer saß an ihrem Tisch. Sie sah auf, nahm ihre schwere Lesebrille ab und begrüßte ihn mit einem Lächeln, das für Chavasse immer um eine Nuance herzlicher war als für die andern.
»Paul, gut siehst du aus. Ich bin ja so froh, daß du wieder da bist.«
Sie stand auf und kam um den Tisch herum; eine kleine, schwermütige Frau von ungefähr dreißig Jahren. Sie sah auf eine sehr eigene Art attraktiv aus. Chavasse nahm ihre Hände und gab ihr einen Kuß auf die Wange.
»Ich bin doch immer noch nicht dazu gekommen, mein Versprechen einzulösen und dich für einen Abend in die Scheune einzuladen. Aber ich hab’s noch nicht vergessen.«
»Oh, das habe ich auch nie bezweifelt.« Sie sah ihn skeptisch an. Dann sagte sie: »Hast du die Nachricht bekommen?«
»Meine Maschine hatte Verspätung, aber der Bote hat vor meiner Wohnung auf mich gewartet. Ich habe noch nicht einmal meine Koffer auspacken können. Ich bin im St.-Bede-Krankenhaus gewesen und habe mir die Leiche angesehen. War sehr unangenehm. Er hatte schon ziemlich lange im Wasser gelegen. War ausgebleicht wie frische Wäsche; das sah natürlich ziemlich eigenartig aus, wenn man bedenkt, wie du ihn mir beschrieben hast.«
»Erspar mir die Einzelheiten.« Sie schaltete die Sprechanlage ein. »Paul Chavasse ist da, Mr. Mallory.«
»Er soll hereinkommen.«
Die Stimme war kalt und klang, als ob sie aus einer anderen Welt käme – einer Welt, die Chavasse während der zweimonatigen Kur fast vergessen hatte. Ein unbehagliches Gefühl breitete sich in seinem Magen aus. Er machte die Tür auf und ging hinein.
Mallory hatte sich überhaupt nicht verändert. Er trug immer noch denselben grauen Flanellanzug von demselben teuren Schneider; dieselbe Krawatte von der Schule, auf der man gewesen sein mußte; kein graues Härchen, das nicht an seinem Platz lag; derselbe frostige Blick über den oberen Rand der Brille. Ihm gelang nicht einmal ein Lächeln.
»Hallo, Paul, ich freue mich, Sie wiederzusehen«, sagte er, und es klang, als ob jedes Wort gelogen wäre. »Was macht das Bein?«
»Wieder soweit in Ordnung, Sir.«
»Keine Nachwirkungen mehr?«
»Bei feuchtem Wetter schmerzt es ein bißchen, aber die Ärzte haben mir gesagt, das gebe sich mit der Zeit.«
»Sie können von Glück sagen, daß Sie noch auf zwei Beinen gehen. Mit Magnumkugeln ist nicht zu spaßen. Wie geht’s Alderney?«
Chavasses englische Mutter lebte als Pensionärin auf der schönsten aller Inseln im Kanal, und er hatte die Kur bei ihr verbracht und sich bei ihrer sachkundigen Pflege gut erholt. Ihm fiel plötzlich ein, daß sie gestern um diese Zeit noch auf dem weißen Strand von Telegraph Bay Picknick gehalten hatten; es hatte kaltes Huhn und Salat gegeben, und sie hatten eine Flasche Liebfrauenmilch getrunken, eiskalt aus dem Kühlschrank, und die Flasche in ein feuchtes Tuch gewickelt; gegen jede Tischsitte, aber die einzige Möglichkeit, ihn zu genießen.
Er seufzte. »Gut, Sir. Sehr gut.«
Mallory kam dann zum Dienstlichen. »Haben Sie die Leiche im St.-Bede-Krankenhaus gesehen?«
Chavasse nickte. »Weiß man, wer er war?«
Mallory legte eine Akte auf den Tisch und schlug sie auf.
»Ein westindischer Neger namens Harvey Preston aus Jamaika.«
»Und wie haben Sie das herausgefunden?«
»Wir hatten seine Fingerabdrücke.«
Chavasse hob die Schultern. »Seine Finger waren geschwollen wie Bananen, als ich ihn gesehen habe.«
»Die Leute im Labor haben eine spezielle Technik für solche Probleme. Sie lösen die Haut von den Fingern und lassen sie mit Hilfe von Chemikalien auf normale Größe zusammenschrumpfen. Das ergibt dann brauchbare Abdrücke.«
»Da haben sich die Leute ja eine Menge Mühe gemacht mit der Leiche eines Unbekannten, die nach sechs Wochen angeschwemmt wird. Aus welchem Grund?«
»Zunächst einmal ist die Geschichte nicht ganz so passiert. Man hat ihn aus dem Netz eines Fischerbootes aus Brixham geholt, und er war mit einer siebzig Pfund schweren Kette gefesselt.«
»Also wahrscheinlich ermordet?«
»Tod durch Ertränken.«
»Keine schöne Art zu sterben.«
Mallory schob ein Foto über den Tisch. »Das ist er, die Aufnahme ist 1967 bei seinem Prozeß im Old Bailey gemacht
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