Eine Rose im Winter
Hoffnung war, daß ihr Vater so schnell wie möglich heimkehrte. Aber auch das könnte sich als zweischneidiges Schwert erweisen.
Im nächsten Augenblick, als sie ihren Schritt verhielt, dämmerte es Erienne, daß das gelassene Klipp-Klapp der Hufe von draußen genau vor ihrem Haus aufhörte. Erienne wartete angespannt, ob der Reiter sich bemerkbar machen würde oder ob das Klappern der Hufe sich entfernte. Ein Gefühl von Verhängnis überkam sie, als sie hörte, wie ein Stiefel über die Stufen kratzte, und schon kurz darauf hörte sie ein lautes Klopfen an der Tür.
»Silas Chambers!« Ihre Gedanken und ihre Nerven sprangen alsogleich auf. Sie sah wild um sich, rang verzweifelt die Hände. Wie konnte er nur jetzt kommen, in diesem fatalen Moment?
In wahnsinniger Hast lief sie zu Farrell und bemühte sich, ihn aufzuwecken; aber selbst ihre liebevollsten Bemühungen konnten nicht einmal sein gleichmäßiges Schnarchen unterbrechen. Sie versuchte, ihn hochzuziehen; jedoch es war schwieriger, als einen Sack voller Steine aufzuheben. Er fiel nach vorn und stürzte auf den Fußboden, wo er – alle viere von sich gestreckt – liegen blieb, während der Raum vom ständigen Klopfen des Fremden widerhallte.
Für Erienne gab es nur eines: das Augenblickliche hinzunehmen. Vielleicht war Silas nicht einmal einen Gedanken wert, und sie würde dankbar sein, daß ihr Bruder anwesend war. Und dennoch, sie spürte Widerwillen, sich selbst und ihre Familie dem Spott auszuliefern, der dem Besuch folgen würde. In der Hoffnung, wenigstens ihren Bruder vor einem zufälligen Blick zu verbergen, zog sie einen Sessel vor ihn und breitete einen Schal über seinem Gesicht aus, um sein Schnarchen zu mildern. Danach strich sie mit ruhiger Bestimmtheit ihr Haar und das Kleid zurecht und versuchte, ihre quälende Angst zu unterdrücken. Irgendwie würde schon alles gut ausgehen. Es mußte einfach so sein!
Das fordernde Klopfen begann wieder, als sie die Tür erreichte. Sie legte die Hand auf die Klinke und erschien voller kühler ausgeglichener Weiblichkeit an der Tür.
Für kurze Sekunden schien der offene Raum von einem großen nassen Tuch ausgefüllt zu sein. Langsam wanderte ihr Blick von weiten schwarzen Lederstiefeln hinauf, über einen langen Überrock, bis zum Gesicht unter der tropfenden Krempe eines breiten Huts. Sie hielt den Atem an. Es war das Gesicht eines Mannes. Und es war das schönste Männergesicht, das sie jemals gesehen hatte.
Als ihr Blick sich zu seinem Gesicht hob, bemerkte sie, wie die Stirn sich leicht zusammenzog und seine Gesichtszüge absolut ernst und voller böser Ahnung schienen. In seinen schmalen, feingemeißelten Zügen, in den schmalen Wangen und dem römischen Profil, das einem Seemann zu gehören schien, zeigte sich ein angespannter, beinahe finsterer Ausdruck. Dennoch huschte schnell etwas Humor über diese Züge, der sich in kleinen Fältchen um die Augen zeigte. Die graugrünen Augen erschienen voller Leben, so als suchten sie nach jedem Funken Lebensfreude. Frei und ohne jede Verlegenheit offenbarten sie seine Anerkennung, als sein Blick sie von oben bis unten umfasste. Das langsame Lächeln, das diesem Blick folgte, und das Aufblitzen in seinen durchscheinenden Augen verbanden sich zu einer derart entwaffnenden Kraft, daß ihre Knie schwach wurden.
Das war kein wackliger Alter oder zittriger Prahlhans, stellte Erienne im Nu fest, sondern ein Mann, lebendig und stark mit jeder Faser seines Wesens.
Daß er ihre Erwartungen bei weitem übertraf, war unleugbar eine Untertreibung. Ja, sie fragte sich, warum solch ein Mann keinen anderen Weg fand, eine Braut zu suchen, als – im Tauschhandel.
Mit galanter Geste zog der Fremde seinen Hut und enthüllte damit sein dichtes dunkelbraunes Haar. Seine volle männliche Stimme war so angenehm wie sein gutes Aussehen. »Miß Fleming, nehme ich an?«
»Oh, hm, ja. Erienne. Erienne Fleming.« Ihre Zunge war ungewöhnlich schwer, und sie begann zu fürchten, daß sie zu stottern anfangen und sich somit bloßstellen würde.
Ihre Sinne rasten, formten Gedanken, die allen früheren entgegenstanden. Der Mann war beinahe vollkommen! Anscheinend ohne Fehl! Dennoch – die Frage blieb bestehen: Wenn dieser Mann willens war zu heiraten, wie war es ihm gelungen, ein reifes Alter zu erreichen, ohne von mindestens zwölf Frauen eingefangen worden zu sein?
Er muß irgendeinen Fehler haben! räsonierte ihr gesunder Menschenverstand. Sie kannte doch ihren Vater;
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