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Eine schwimmende Stadt

Eine schwimmende Stadt

Titel: Eine schwimmende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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Matrosen eingeläutet würde, der diese Nacht gestorben sei. Die traurige Ceremonie sollte also schon jetzt vollzogen werden. – Das bis zu dieser Stunde so herrliche Wetter ging offenbar einem Wechsel entgegen, denn im Süden ballten sich schwere, dunkle Wolken zusammen.
     

    Der Kapitän verlas mit ernster Stimme das Gebet für die Todten. (S. 121.)
     
    Beim Ruf der Glocke begaben sich die Passagiere in Menge auf Steuerbordsseite, die Stege, Radkasten, Verschanzungen, Wanten und die in ihren Taljen hängenden Boote füllten sich in kurzer Zeit mit Zuschauern. Officiere, Matrosen und Heizer, die gerade nicht Dienst hatten, stellten sich auf dem Verdeck auf.
    Um zwei Uhr erschienen am Ende des großen Deckzimmers eine Gruppe Seeleute, die aus dem Krankenzimmer kamen und an der Steuermaschinerie vorüber gingen. Vier Mann trugen die Leiche des Matrosen; sie war in ein Stück Segeltuch genäht und an den Füßen mit einer Kugel auf ein Brett geheftet. Die britische Flagge war über den Leichnam gebreitet, und die Träger rückten, von allen Kameraden des Todten gefolgt, langsam bis etwa zur Mitte der Versammlung vor.
    Vor der Zuschauerreihe, die sich auf dem Radkasten placirt hatte, standen in Gala-Uniform Kapitän Anderson und die ersten Officiere; der Kapitän hatte ein Gebetbuch in der Hand; er entblößte sein Haupt und verlas mit ernster Stimme, während das tiefste Schweigen herrschte, das Gebet für die Todten. Bei der schweren, sturmdrohenden Atmosphäre und der Ruhe rings umher konnte man auch sein leisestes Wort verstehen. Einige Passagiere antworteten mit gedämpfter Stimme.
    Dann wurde der von den Trägern empor gehobene Körper in’s Meer herab gelassen. Einen Augenblick schwamm er oben, dann richtete er sich auf und verschwand mitten in einem Schaumkreise in der Tiefe.
    In derselben Minute ertönte aus dem Mastkorbe der Ruf:
    »Land!«
Einunddreißigstes Capitel.
Land! – Der Donner als Pitferge’s Freund und Medicin.
    Das Land, in demselben Moment angekündigt, da sich die Wasser über dem armen Matrosen schlossen, zeigte sich bald als eine Linie niedriger, gelber Dünen. Es war Long-Island, eine lange, durch kräftige Vegetation verschönte Sandbank, die die amerikanische Küste von der Montaukspitze bis Brooklyn, der Vorstadt von New-York, deckt. Eine Menge Küstenfahrer segelten am Rande der mit Villen und Lustschlössern bebauten Insel dahin. Das Eiland ist eine Lieblings-Villeggiatur der New-Yorker.
    Die Passagiere winkten mit der Hand dem nach einer zu langen Ueberfahrt so sehr ersehnten Land ihre Grüße zu; unsere Reise war nicht gefahrlos und leicht gewesen. Alle Ferngläser richteten sich auf das erste Stückchen amerikanischen Continent, und Jeder sah es durch sein Leid oder seine Freude mit andern Augen an. Die Yankees begrüßten in ihm ihr Heimatland, während die Anhänger der Südstaaten mit der Verachtung des Besiegten für den Sieger auf diese Nordländer herabblickten. Die Canadier blickten darauf hin als Menschen, die nur einen Schritt zu machen hatten, um Bürger der Union zu werden, die Californier setzten bereits im Geist ihren Fuß über all diese Ebenen des Far-West hinweg auf die unerschöpflichen Goldgruben; die Mormonen sahen kaum mit verächtlich gekräuselter Lippe und hochmüthig erhobenem Haupt auf diese Gestade und dachten ihres Salzsees und der Stadt der Heiligen in unzugänglicher Wüste; unsere jungen Brautleute aber schauten strahlenden Auges und mit lächelndem Munde hinüber zu dem ersehnten Continent, für sie das Gelobte Land.
    Der Himmel bedeckte sich mehr und mehr, und finsteres Gewölk zog, wie es schien, vom südlichen Horizont heraus. Die Luft war drückend schwül, und die dunkle Wolkenmasse näherte sich von Minute zu Minute mehr dem Zenith. Es war so heiß, als sendete die Juli-Sonne ihre heißesten Strahlen senkrecht auf uns hernieder. Hatten die Zwischenfälle dieser Ueberfahrt noch nicht ihr Ende erreicht?
    »Soll ich Ihnen etwas sehr Merkwürdiges mittheilen? fragte mich Doctor Pitferge, der auf den Laufplanken hinter mir hergekommen war.
    – Thun Sie das, Doctor.
    – Nun, wir werden heute noch ein Gewitter, vielleicht sogar einen Sturm erleben.
    – Ein Gewitter im Monat April! rief ich ungläubig.
    – Der Great-Eastern spottet der Jahreszeiten, versetzte Dean Pitferge achselzuckend, das Gewitter ist expreß für ihn zusammengerührt. Betrachten Sie einmal die unheimliche, förmlich Aufruhr strahlende Farbe dieser Wolkenmasse; den Formen nach

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