Eine skandalöse Versuchung
mehr zu der Überzeugung, dass sein Ausdruck nichts weiter war als eine Maske.
Vor dem Tor blieb er stehen und streckte ihr die Hand hin.
Die Höflichkeit verlangte, dass sie ihm ihre Finger erneut auslieferte.
Seine Hand schloss sich um die ihre; sein viel zu scharfsichtiger Blick hielt sie gefangen. »Ich hoffe, wir werden unsere Bekanntschaft bald vertiefen, Miss Carling. Bitte übermitteln Sie Ihrem Onkel meine aufrichtigen Grüße; ich werde ihm, sobald es geht, meine Aufwartungen machen.«
Sie neigte höflich den Kopf, der Etikette bewusst gehorchend, obwohl sie ihm am liebsten auf der Stelle ihre Hand entzogen hätte. Es kostete sie einige Mühe, das Zittern ihrer Finger zu unterdrücken. Sein kühler, fester, vielleicht etwas zu starker Händedruck brachte ihr Gleichgewicht auf eine ganz und gar seltsame Art ins Wanken. »Guten Tag, Lord Trentham.«
Er gab ihre Hand frei und verneigte sich.
Sie drehte sich um, trat durchs Tor und warf es hinter sich zu. Ihre Blicke trafen sich flüchtig, bevor sie sich endgültig dem Haus zuwandte.
Dieser winzige Augenblick reichte aus, um ihr erneut den Atem zu rauben.
Während sie den Weg entlangschritt, bemühte sie sich vergeblich weiterzuatmen - sie spürte seinen Blick nach wie vor auf ihr ruhen. Dann erkannte sie am Geräusch seiner Schuhe, dass er sich umdrehte, und schließlich hörte sie seine festen Schritte, die sich auf dem Gehweg entfernten. Endlich nahm sie einen tiefen Atemzug und ließ die Luft erleichtert entweichen. Was hatte Trentham nur an sich, dass er sie derart nervös machte?
Nervös weswegen?
Das Gefühl seiner harten, beinahe schwieligen Hand unter ihren Fingern wirkte noch nach - wie eine sinnliche Erinnerung, die sich ihr eingebrannt hatte. Ein vager Gedanke versuchte, wie bereits zuvor, Gestalt anzunehmen, doch er entglitt ihr erneut. Obwohl sie Trentham noch nie zuvor begegnet war - daran bestand kein Zweifel -, kam ihr irgendetwas an ihm vertraut vor.
Während sie die Treppe zum Eingang hinaufstieg, schüttelte sie innerlich den Kopf und zwang sich, ihre Gedanken ausschließlich auf die von ihr zuvor vernachlässigten Pflichten zu richten.
Tristan schlenderte auf eine kleine Ansammlung von Ladenlokalen in der Motcomb Street zu, wo sich auch Earnest Stolemores Maklerbüro befand. Das Gespräch mit Leonora Carling hatte seine Sinne geschärft und Instinkte in ihm wachgerufen, die noch vor nicht allzu
langer Zeit fester Bestandteil seines alltäglichen Lebens gewesen waren. Nicht selten hatte sein Leben davon abgehangen, dass er diese Instinkte genau analysierte und korrekt interpretierte.
Er war sich nicht ganz sicher, was er von Miss Carling - oder Leonora, wie er sie innerlich nannte, immerhin hatte er sie bereits volle drei Monate lang beobachtet - eigentlich halten sollte. Sie war noch deutlich attraktiver, als er es aus der Entfernung angenommen hatte. Ihr dichtes mahagonifarbenes Haar war durchzogen von granatfarbenen Reflexen; ihre ungewöhnlich blauvioletten Augen waren groß und mandelförmig und wurden von feinen, dunklen Augenbrauen überspannt. Sie hatte eine gerade Nase, fein modellierte Züge, hohe Wangenknochen und eine blasse, makellose Haut. Doch es waren ihre Lippen, die ihrem Gesicht einen ganz besonderen Charakter verliehen - volle, weich geschwungene Lippen von dunklem Rosa, die einen Mann regelrecht dazu aufforderten, sie zu schmecken, sie zu kosten.
Seine spontane körperliche Reaktion, ebenso wie die ihre, war ihm durchaus nicht entgangen. Es war vor allem ihre Reaktion, die ihn so faszinierte; es schien, als wäre ihr gar nicht bewusst, was es mit diesem plötzlichen Aufflammen sinnlicher Empfindungen eigentlich auf sich hatte.
Woraus sich einige höchst interessante Fragen ergaben, die er sicherlich noch weiterverfolgen würde - allerdings nicht jetzt. Im Moment waren es vielmehr die banalen Fakten, die sich aus ihrer Unterhaltung ergeben hatten, welche seinen Intellekt beschäftigten.
Ihre Ängste und Befürchtungen bezüglich der versuchten Einbrüche mochten ihrer zu ausgeprägten weiblichen Fantasie entsprungen sein, ausgelöst von dem einschüchternden Verhalten Stolemores, der sie zum Verkauf nötigen wollte.
Möglicherweise hatte sie sich die Vorfälle sogar gänzlich eingebildet.
Doch sein Instinkt war da anderer Meinung.
In seinem bisherigen Betätigungsfeld hatte er sich darauf verlassen
müssen, Menschen richtig zu deuten, sie richtig einzuschätzen; er hatte den Bogen seit Langem raus.
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