Eine skandalöse Versuchung
Er war überzeugt davon, dass es sich bei Leonora Carling um eine starke, überaus praktisch veranlagte Frau handelte, die zudem eine ordentliche Portion gesunden Menschenverstand besaß. Gewiss nicht die Art von Frau, die vor einem Schatten zusammenzuckt und sich Einbrüche einbildet.
Wenn ihre Vermutung hingegen stimmte und die Einbrüche tatsächlich mit Stolemores Kunden und dessen Kaufbestrebungen zusammenhingen …
Er kniff die Augen zusammen. Allmählich enthüllte sich ihm ein Bild, das Leonoras Verhalten - ihn so unvermittelt auf der Straße zu konfrontieren - durchaus nachvollziehbar machte. Und dieses Gesamtbild wollte er, nein, würde er keinesfalls akzeptieren. Entschlossenen Schrittes ging er weiter.
Bis er Stolemores grün gestrichene Ladenfront erreichte. Tristans Lippen verzogen sich zu einem Ausdruck, den ein unerfahrener Betrachter niemals als Lächeln gedeutet hätte. Als er nach der Türklinke griff, bemerkte er sein Gesicht in der Scheibe und setzte eine versöhnlichere Miene auf. Stolemore würde seine Neugier mit Sicherheit befriedigen können.
Die Türglocke läutete.
Tristan trat ein. Stolemores rundliche Gestalt saß nicht hinter dem Schreibtisch. Das kleine Büro war leer. Gegenüber der Eingangstür befand sich ein Durchgang, der von einem Vorhang verdeckt wurde; er führte tiefer in das winzige Haus, dessen vorderstes Zimmer Stolemores Büro beherbergte.
Tristan schloss die Tür und wartete ab, doch von dem schlurfenden, schweren Gang des korpulenten Maklers war nichts zu hören.
»Stolemore?« Tristans Stimme hallte lauter durch das kleine Gebäude als das zarte Bimmeln der Türglocke. Er wartete erneut ab. Eine Minute verstrich, ohne dass das geringste Geräusch zu vernehmen war.
Nichts.
Er hatte einen Termin mit Stolemore, den der Makler gewiss nicht absichtlich versäumen würde. Tristan hatte den Wechsel für die Abschlusszahlung des Hauses in der Tasche; der Kaufvertrag war so ausgelegt, dass die Maklerprovision mit der letzten Zahlung fällig wurde.
Die Hände in den Taschen seines Paletots stand er völlig regungslos da; sein Rücken war der Eingangstür zugewandt, sein Blick fest auf den leichten Vorhang gerichtet.
Irgendetwas stimmte hier nicht.
Er konzentrierte sich, richtete seine gesamte Aufmerksamkeit auf den Vorhang und ging langsam, völlig lautlos darauf zu. Er hob den Arm und zog den Stoff abrupt beiseite, während er gleichzeitig einen Schritt zur Seite trat.
Das Klappern der Gardinenringe verstummte allmählich.
Vor ihm lag ein enger, düsterer Korridor. Seitwärts, den Rücken zur Wand gerichtet, trat er hinein. Nach wenigen Schritten erreichte er eine Treppe, die so schmal war, dass er sich fragte, wie Stolemore überhaupt dort hinaufkam; er überlegte kurz, aber nachdem von oben keinerlei Geräusch zu vernehmen war und Tristan nicht das Gefühl hatte, dass sich dort oben jemand befand, entschloss er sich, weiter den Korridor entlangzugehen.
Dieser führte ihn in eine kleine Küche, die hinten an das Haupthaus angebaut war.
Auf den Steinfliesen, jenseits des wackeligen Tisches, der fast den gesamten Raum einnahm, lag, in sich zusammengesunken, eine menschliche Gestalt.
Ansonsten war der Raum leer.
Die Gestalt war niemand anderes als Stolemore selbst; er war übel zugerichtet.
Außer ihnen war das Haus menschenleer; Tristan war sich dessen sicher genug, um seine Wachsamkeit abzulegen. Den Blutergüssen auf Stolemores Gesicht nach lag der Überfall bereits mehrere Stunden zurück.
Ein Stuhl lag umgekippt am Boden. Tristan stellte ihn wieder auf
und trat um den Tisch herum, um sich zu dem Makler hinunterzuknien. Eine flüchtige Untersuchung bestätigte ihm, dass Stolemore lebte, jedoch bewusstlos war. Allem Anschein nach hatte er versuchte, den Schwengel der Wasserpumpe zu erreichen, die am hinteren Ende der Küche in die Arbeitsplatte eingelassen war. Tristan stand auf, fand eine Schüssel und hielt sie unter das Rohr, während er den Hebel betätigte.
Ein großes Herrentaschentuch lugte aus der Manteltasche des elegant gekleideten Maklers hervor; Tristan benutzte es, um Stolemores Gesicht anzufeuchten.
Der Mann rührte sich und schlug die Augen auf.
Eine plötzliche Anspannung durchzuckte seinen schweren Körper. Ein Ausdruck von Panik trat in Stolemores Augen, dann fiel sein Blick auf Tristan, und er erkannte ihn.
»Oh. Aah …« Stolemore jaulte auf, versuchte dann aber, sich aufzurichten.
Tristan packte seinen Arm und zog ihn hoch.
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