Eine Socke voller Liebe
Warteschlange vor
dem wuchtigen Eingangstor an. Ein dicker, hinkender Mönch lief an der Reihe
vorbei, klatschte Andrea im Vorbeigehen leicht mit seinem Krückstock auf den Po
und streichelte wie unbeabsichtigt über Sabines nackten Arm.
Verdutzt sahen sich die beiden Freundinnen an: „Was war denn
das jetzt?“ Dann brachen sie in ein schallendes Gelächter aus. Der Pater war
nicht mehr zu sehen.
Als die Mönche später während des Pilgergottesdienstes ihre
berühmten gregorianischen Gesänge anstimmten, konnte Andrea es sich nicht
verkneifen, ihrer Freundin zuzuflüstern: „Ob der Lustmolch jetzt auch
mitsingt?“
„Wahrscheinlich hat er eine besonders sonore Stimme“,
flüsterte Sabine grinsend zurück.
Den perfekt gesungenen alten lateinischen Messgesängen tat
diese Vorstellung aber keinen Abbruch. Die Mönche trugen die einstimmigen
Choräle mit großer Präzision vor. Ihre kräftigen Stimmen verhallten in der andächtigen
Stille, die in der großen Kirche herrschte. Die vielen Menschen, die das
Gotteshaus füllten, waren so ruhig, dass man eine Stecknadel hätte fallen
hören.
Beseelt von dem meditativen Gottesdienst machten sich die
Freundinnen anschließend auf den Weg zum Abendessen. Michaels Handy klingelte.
„Ja?“, meldete sich Andrea.
„Andrea, bist du’s?“, fragte Michael am anderen Ende der
Leitung. Ihr Herz machte einen Sprung vor Glück, als sie seine Stimme hörte.
„Ja“, erwiderte sie.
„Ich hab’s ja fast nicht glauben wollen, als Sebastian mir
erzählt hat, dass ausgerechnet du mein Handy gefunden hast.“
„Ich auch nicht.“
„Pass auf, ich mache es kurz. Der Akku wird sicher bald leer
sein, denn das Ding muss schon zwei Tage dort gelegen haben.“
„Dann wird das so sein, ja.“
„Wir sind wahrscheinlich in drei Tagen in Santiago, dann
melde ich mich noch einmal auf deinem Handy. Sagst du mir bitte deine Nummer?“
Sie nannte die Zahlen und bemerkte anschließend, „wir werden
aber mindestens noch fünf Tage bis Santiago brauchen.“
„Ich überlege mir, wann und wo wir uns treffen können, denn
ich will mit Hubert und Sebastian noch bis Finisterre laufen.“
„Alle Achtung!“
„Also, ich melde mich. Grüß Sabine von mir und euch weiterhin
einen buen camino.“
„Euch auch, und…“ Michael hatte das Gespräch bereits beendet,
„…tschüss“, ergänzte Andrea leise und wiegte das Handy langsam in ihrer Hand
hin und her, bevor sie es ausschaltete.
Die Nacht in der gepflegten privaten Herberge war ruhig, aber
Andrea schlief nur wenig. Immer wieder erwachte sie mit klopfendem Herzen aus
ihrem leichten Schlaf.
Ihre Sehnsucht hatte ein Gesicht bekommen. Und sie ließ es
zu. Sie genoss das warme Kribbeln in ihrem Körper bei den Gedanken an Michael
und dachte voller Aufregung an das Wiedersehen. Sie stellte sich vor, wie er
sie mit seinen leuchtend blauen Augen ansehen und ihre Hand ergreifen würde, um
sie langsam an sich zu ziehen und zu umarmen… Glücklich lächelnd versank sie in
ihren Träumen.
32.
Dankbarkeit
Der Jakobsweg wurde bescheidener. Das Kloster Samos war das
letzte große historische Bauwerk bis Santiago. Die meisten Dörfer waren arm,
und die Landschaft war nicht mehr so gigantisch.
Im Morgennebel wanderten die Freundinnen über Feld- und
Waldwege bis Sarria. In der alten Stadt machten sie ihre obligatorische
Kaffeepause.
Ab hier waren es noch einhundertzwanzig Kilometer bis
Santiago. Man musste nachweislich mindestens einhundert Kilometer pilgern, um
die Pilgerurkunde „Compostela“ in der Pilgerstadt zu erhalten. Viele
Jugendliche und Kurzpilger liefen deshalb diesen letzten Teil des Weges. Das
bedeutete, dass bald mehr Menschen unterwegs sein würden.
Ein wunderschöner Eichenwald mit uralten, großen, knorrigen
Bäumen, deren Stämme mit Efeu und Moos bewachsen waren, breitete sein grünes
Blätterdach schützend vor der heißen Mittagssonne über die Pilgerinnen aus.
Andrea und Sabine genossen den idyllischen Waldweg, der von
einem dahinplätschernden Bach begleitet wurde. Irgendwann setzten sie sich auf
zwei große Steine und zogen Schuhe und Strümpfe aus, um die Füße zu kühlen.
„So macht das Pilgern wieder Spaß“, freute sich Andrea,
während sie langsam ihre Zehen in das kalte Wasser tauchte.
Sabine tat es ihr gleich. Ihr Handy signalisierte piepsend
eine Nachricht.
„Oho, Felix schreibt mir“, verkündete sie fröhlich und las:
„Liebe Mama, wie geht es euch? Uns allen geht es gut, auch
Papa. LG
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