Eine Socke voller Liebe
Idylle.
„Dankbar sein macht glücklich“, unterbrach Sabine mit leiser
Stimme die Stille.
„Ja, man kann sich nur schwer vorstellen, dass jemand dankbar
und unglücklich zugleich ist“, stimmte Andrea ihr zu.
„Ich suche nach dem Grund für das Gefühl der Dankbarkeit, das
wir hier so oft empfinden. Vielleicht ist es so, weil wir das Leben und alles
um uns herum viel intensiver wahrnehmen. Wir werden nicht abgelenkt und nichts
ist selbstverständlich. Wir staunen immer wieder über uns selbst und unser
Durchhaltevermögen.“
„Ja, wir freuen uns über jeden Berg, den wir geschafft haben
und über jeden Bach, der uns eine Abkühlung schenkt. Jeder schöne Moment
gewinnt an Tiefe, weil wir ihn hier bewusst wahrnehmen.“
„Ich wünsche mir, dass ich diese Aufmerksamkeit auch behalten
kann, wenn ich wieder zu Hause bin…“
„…und mich nicht mehr durch die allgemeine Hektik davon
ablenken lasse“, vervollständigte Andrea den Satz.
33. Leben
ist Pilgern
Die geraden Feldwege zwischen grünen Kuhweiden wechselten sich
ab mit himmlisch weichen Hohlwegen durch den Wald. Sabine und Andrea waren
froh, dass auch die heutige Etappe es gut mit ihren strapazierten Körpern
meinte und nicht besonders anstrengend zu laufen war.
Vor Portomarin überquerte eine große Brücke den Stausee, der
fast ausgetrocknet war. Das alte Dorf, einst eines der blühendsten und
reichsten Orte Galiciens, verschwand in den sechziger Jahren des zwanzigsten
Jahrhunderts im Wasser.
Jetzt, am Ende des Sommers, hatte der aufgestaute Rio Mio so
wenig Wasser, das alte Mauerreste und Ruinen wie Gerippe als tote Zeugen der
Vergangenheit aus ihm herausragten. Andrea und Sabine blieben auf der Brücke
stehen, um sich diesen Anblick zu verinnerlichen.
„Das sieht ziemlich traurig aus“, fand Sabine.
„Und deswegen gehen wir nun weiter, gönnen uns eine kalte
Cola und schauen uns das neue, heutige Portomarin an“, schlug Andrea vor.
Die Häuser der Neustadt machten einen eher zweckmäßigen
Eindruck. Daran änderten auch die geschwungenen Arkaden vor den kleinen
Geschäften nicht viel. Die wenigen bunten Blumen reichten nicht aus, um dem
tristen Grau etwas Freundlichkeit zu verleihen. Selbst auf dem großen Platz vor
der Kirche wuchs nicht ein einziger Baum. Der eckige Turm der abgetragenen und
wieder aufgebauten Kirche San Pedro wirkte wie eine Festung.
Es war Mittagszeit, das heißt, die Menschen hielten Siesta
und die Straßen waren wie ausgestorben. So wirkte diese neue Stadt auch eher
trostlos auf die beiden Pilgerinnen. Nur in einer kleinen Bar, die sie
versteckt in einer Seitenstraße fanden, herrschte Leben; denn hier saßen
mehrere Peregrinos unter einem dicken Baum bei erfrischenden Getränken. Die
Freundinnen gesellten sich zu ihnen.
Eine rostige Hängebrücke, die hoch über einer Eisenbahnstrecke
angebracht war, führte sie später aus der Stadt hinaus. Vorsichtig setzten sie
einen Fuß nach dem andern auf die wackeligen, teils morschen Holzbalken und
hielten sich an dem rostigen Geländer fest.
Die leichten Schwingungen erinnerten Sabine an die
„Wackelbrücke“ auf dem Gonsenheimer Waldspielplatz, den sie und Markus früher
oft mit ihren kleinen Kindern besucht hatten. Ja, damals waren sie glücklich
gewesen und fest davon überzeugt, dass das immer so bleiben würde. Wie
vergänglich solche Meinungen doch sind! Aber wie schön, die Erinnerung an
glückliche Zeiten zu haben.
Unterwegs tauchten jetzt immer mehr fast tausend Jahre alte,
verwitterte Pilgerkreuze aus Stein auf, die auf einer Seite eine Marienfigur
und auf der anderen den gekreuzigten Jesus zeigten. Sie alle waren von Wind und
Wetter gezeichnet. Manche wirkten wie abgeschliffen, andere waren mit Moos
überzogen.
Andrea erfasste jedes Mal ein ehrfürchtiges Gefühl, wenn sie
vor solch einem alten Denkmal der Jakobspilger stand.
„Pilgern ist Leben und Leben ist Pilgern“, sagte sie
nachdenklich vor sich hin, „und jeder der vielen Millionen Menschen, die in
tausend Jahren hier gestanden haben, hatte seine eigene Geschichte. Jeder hatte
einen eigenen Beweggrund dafür, hier zu stehen, egal ob er Kreuzritter,
Wanderer, Räuber oder Pilger war. Die historischen Geschichten sind mit den
gegenwärtigen verknüpft. Die Lebensgeschichten unserer Eltern und Großeltern
sind auch mit unserer eigenen eng verbunden.“
Nachdenklich machte sie eine Atempause und schnippte einmal
kurz mit dem Zeigefinger in die Luft, bevor sie fortfuhr: „Mir kommt da
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