Eine Socke voller Liebe
eine
Idee, ein Vergleich sozusagen. Stell dir vor, die Welt wäre ein Buch mit vielen
Geschichten. Und so, wie sich ein Buchstabe mit anderen zu einem Wort
verbindet, die Wörter sich zu einem Satz formen und die Sätze eine Geschichte
ergeben, so könnte man sich doch auch das Zusammenwirken der Menschen
vorstellen. Wir sind die Buchstaben, die herumpurzeln und sich zu Wörtern
formen, und Gott hält das dicke Buch mit all den kleinen und großen Geschichten
fest in seiner Hand.“
„Nicht schlecht“, hörte sie Sabine sagen, „darf ich mich an
deinen Gedankenspielen beteiligen?“
„Ja, schieß‘ los.“
„Also, wenn wir wie Buchstaben sind, die herumpurzeln und
sich zu Wörtern verknüpfen, sind wir beweglich und können unsere
Wörterverändern.“
„Stimmt.“
„Das bedeutet aber auch, dass wir alle voneinander abhängig
sind; denn auch der Sinn des Satzes kann sich durch ein anderes Wort jederzeit
verändern.“
„Genau. Aber, das ist doch das Geniale!“, ereiferte sich
Andrea, „dadurch, dass du dich, ich meine deine Buchstaben veränderst,
verändern sich auch die Wörter, die zu dir gehören.“
„Aha. Du meinst also, wir können in unserem eigenen Leben, in
unserem eigenen Satz, ein Wort so verändern, dass die ganze Geschichte eine
andere wird.“
„Genau! Und mit jedem Kind, das geboren wird, kommen neue
Buchstaben und Wörter hinzu und jeder hat seine eigene, kleine Geschichte, in
der er allerdings auch ein bisschen gefangen ist, denn er kann nicht aus dem
Buch ausbrechen.“
„Aber die Geschichten sind alle miteinander verknüpft und das
Buch wird immer dicker.“ Sabine dachte einen Moment nach, bevor sie
weitersprach: „Also, pass mal auf, du Hobbyphilosophin. Angenommen, man könnte
sein Leben zweimal leben. Glaubst du, man würde sich anders verhalten als beim
ersten Mal?“
„Ich glaube nicht. Das eigene Ich und dein soziales Umfeld
lassen dir in dem Moment der Entscheidung doch meistens keine andere Wahl.“
„Man hat immer mehrere Möglichkeiten, also mindestens zwei.
Man kann Ja oder Nein sagen.“
„Das stimmt.“ Andrea überlegte einen Moment. „Ich glaube,
dass unsere Entscheidungen von unserem Ego und dem eigenen Verlangen nach Glück
und Harmonie gesteuert werden. Und dann haben wir noch die Wahl, ob uns unser
eigenes Glück oder das der anderen wichtiger ist.“
Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: „Karl-Heinz hat einen
Ausspruch von Sören Kierkegaard in seinem Arbeitszimmer hängen, der mir gerade
einfällt: ‚Leben muss man das Leben vorwärts, verstehen kann man es nur
rückwärts‘.“
„Womit er unbedingt Recht hatte“, antwortete Sabine
stirnrunzelnd.
In der neuen, modernen Herberge, die heute ihr Ziel war, hing
im Eingangsbereich ein riesiges Poster vom Meer. Die weißen Schaumkrönchen auf
der Brandung bildeten einen schönen Kontrast zum dunklen Wasser und dem blauen
Himmel darüber. Der weiße Sandstrand lud zum Träumen ein und brachte Andrea auf
eine Idee: „Wenn wir es schaffen, in drei Tagen in Santiago zu sein, hätten wir
noch Zeit genug, um nach Finisterre ans Meer zu fahren. Wir könnten Michael
treffen und ihm das Handy zurückgeben.“
„Falls die drei bis dahin dort angekommen sind“, gab Sabine
zu bedenken.
„Vielleicht meldet er sich ja morgen, dann werde ich ihm das
mal vorschlagen, wenn du einverstanden bist.“
„Ja, ja, das kannst ruhig machen. Es wäre ein schöner
Abschluss unserer Reise.“
34.
Neuigkeiten
Frühnebel lag noch über den Feldern, als die Freundinnen die
Herberge verließen.
„Mein Knöchel schmerzt schon heute Morgen. Trotz der Bandage
und des allnächtlichen Verbandes. So ein Mist!“, schimpfte Sabine.
„Falls es dich beruhigt, mir geht es auch nicht viel besser.
Meine Schulter und mein Knie tun weh. Wir sind wohl doch nicht mehr die
Frischesten. Aber nach fast siebenhundertfünfzig Kilometern dürfen wir auch ein
bisschen jammern, finde ich. Wirst sehen, in einer halben Stunde haben sich
alle wieder ans Arbeiten gewöhnt und geben Ruhe“, tröstete Andrea optimistisch.
Und sie behielt Recht, denn eine halbe Stunde später liefen
sie über die wohltuend weichen Wege eines duftenden Eukalyptuswaldes. Die
riesigen Baumwipfel mit ihren langen spitzen Blättern wiegten sich leise im
Wind. Jeder Stamm war von einer Unmenge Schösslingen umgeben, deren ovale
Blätter silbern in der Morgensonne schimmerten.
Im einem der kleinen Dörfer machten sie die gewohnte
Kaffeepause. Während sie den
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