Eine Spur von Verrat
unbeschreiblich.
Auf der Treppe vor dem Gebäude angelangt, war er unschlüssig, ob er auf Hester warten oder ihr aus dem Weg gehen sollte. Er hatte nichts zu sagen und wäre doch gern in ihrer Gesellschaft gewesen. Oder auch nicht. Bestimmt hatte sie den Kopf voll mit der Verhandlung, mit Rathbones Brillanz. Sicher, er war brillant. Inzwischen war sogar vorstellbar, daß er den Prozeß gewann, was immer das bedeuten mochte. Sie hatte in letzter Zeit eine wachsende Zuneigung zu Rathbone entwickelt, wie ihm jäh und mit einiger Überraschung klar wurde. Der Gedanke kam ihm zum erstenmal; er hatte es zwar registriert, aber nicht in den bewußten Teil seines Verstandes vordringen lassen.
Jetzt war er betroffen und wütend, weil es weh tat.
In einem plötzlich Energieausbruch stürzte er die Stufen hinab auf die Straße hinaus. Es wimmelte von Menschen: Zeitungsjungen, Gemüsehändler, Blumenverkäufer, Männer mit Handkarren voller Sandwiches, Pasteten, Süßigkeiten, Pfefferminzsoda und Dutzenden anderen Speisen. Man schubste und schrie, brüllte nach Droschken.
Das Ganze war absurd. Er mochte beide, Hester und Rathbone er sollte sich für sie freuen.
Ohne sich dessen bewußt zu sein, rempelte er einen feschen, schwarzgekleideten Herrn mit elfenbeinbeschlagenem Spazierstock an und stieg vor ihm in einen Hansom. Er hörte nicht einmal sein aufgebrachtes Protestgeschrei.
»Grafton Street«, befahl er dem Kutscher.
Warum war er bloß so deprimiert, warum dieses Gefühl, auf ganzer Linie versagt zu haben?
Es mußte an Hermione liegen. Die sie betreffende Ernüchterung schmerzte bestimmt noch eine ganze Weile; das war nur natürlich. Er hatte geglaubt, Liebe, Güte, Süße gefunden zu haben – verdammt! Was für ein Quatsch! Er wollte keine Süße! Sie klebte ihm zwischen den Zähnen, lahmte seine Zunge.
Gott im Himmel! Wieviel mußte er über sein eigenes Wesen vergessen haben, um glauben zu können, daß Hermione sein Glück bedeutete. Und jetzt machte er sich immer noch etwas vor, indem er deswegen rührselig wurde.
Bis zu dem Moment, als die Kutsche ihn in der Grafton Street absetzte, hatte der bessere, ehrlichere Teil seines Ichs es geschafft, sich einzugestehen, daß es durchaus einen Platz für Zärtlichkeit gab. Für Liebe, die über Fehler hinwegsieht, die Schwächen zuläßt und anerkennt, die die eigenen Bedürfnisse auch einmal hinten anstellen kann und gibt, selbst wenn der Dank nur zäh oder gar nicht eintrifft. Ein Platz, in dem der Geist großzügig und das Lachen frei ist von Hinterhältigkeit und Schadenfreude. Und er hatte immer noch keinen Schimmer, wo er das finden sollte – nicht mal in sich selbst.
Der erste Zeuge am folgenden Tag war Valentine Furnival. Trotz seiner Größe und den bereits breiter werdenden Schultern wirkte er ausgesprochen jung, und auch der hoch erhobene Kopf vermochte nicht über seine Furcht hinwegzutäuschen.
Über der Menge schwebte ein aufgeregtes Summen, während er die Stufen zum Zeugenstand hinaufschritt und sich dem Gericht zuwandte. Hester drehte sich beinahe der Magen um, als sie sein Gesicht sah und dasselbe entdeckte, was Damaris aufgefallen sein mußte: das völlige Ebenbild von Charles Hargrave.
Sie drehte instinktiv den Kopf, um festzustellen, ob Hargrave sich wieder auf der Galerie befand und das gleiche empfand, nun da er wußte, daß Damaris die Mutter des Jungen war. Sobald sie ihn erspähte – die fahle Blässe, den entsetzten, fast ziellosen Blick – war ihr klar, daß er begriff. Sarah Hargrave saß neben ihm, jedoch ein wenig abgesondert. Sie fixierte erst Valentine, dann ihren Mann; Damaris Erskine auszumachen versuchte sie gar nicht erst.
Gegen ihren Willen spürte Hester Mitleid in sich hochsteigen. Für Sarah war es leicht, aber an ihm mußte es zerren und nagen, weil es von Wut überschattet war.
Der Richter fragte Valentine, ob ihm die Bedeutung der Vereidigung klar wäre, und gab ihm dazu einige Hinweise. Dann forderte er Rathbone auf zu beginnen.
»Hast du General Thaddeus Carlyon gekannt, Valentine?« erkundigte er sich im Plauderton, als befänden sie sich allein in irgendeinem Salon, nicht von schimmerndem Holz umgeben vor Hunderten von Augen und Ohren in einem Gerichtssaal.
Valentine schluckte, um seine trockene Kehle zu befeuchten.
»Ja.«
»Gut?«
Ein leichtes Zögern. »Ja.«
»Lange? Weißt du noch, wie lange?«
»Ja, ungefähr seit ich sechs war, das macht also sieben Jahre.«
»Folglich hast du ihn schon gekannt,
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