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Eine Studie in Scharlachrot

Eine Studie in Scharlachrot

Titel: Eine Studie in Scharlachrot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arthur Conan Doyle
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ist ein ruhiger, zurückhaltender Mann, aber sein Dienstherr war ganz anders. Ich bedaure sehr, das sagen zu müssen. Er hatte rauhe Gewohnheiten und grobe Umgangsformen. Schon am Abend seiner Ankunft hat er sich sinnlos betrunken, und eigentlich kann man nicht sagen, daß er nach zwölf Uhr mittags je nüchtern gewesen wäre. Sein Verhalten den Dienstmädchen gegenüber war abstoßend freizügig und vertraulich. Am schlimmsten aber war, daß er sich meiner Tochter Alice gegenüber sehr bald genauso verhalten und sie mehr als einmal in einer Weise angeredet hat, die zu begreifen sie glücklicherweise zu unschuldig ist. Bei einer Gelegenheit hat er sie gar in die Arme genommen und an sich gedrückt – eine Schamlosigkeit, die sogar seinen eigenen Sekretär dazu gebracht hat, ihm unziemliches Verhalten vorzuwerfen.‹
    ›Aber warum haben Sie sich das alles gefallen lassen?‹ frage ich. ›Ich nehme doch an, daß Sie Ihre Pensionsgäste loswerden können, wenn Sie nur wollen.‹
    Bei dieser gezielten Frage von mir wird Madame Charpentier rot. ›Bei Gott, ich wünschte, ich hätte ihm noch am Tag seiner Ankunft gekündigt‹, sagt sie. ›Aber die Versuchung war zu groß. Jeder von ihnen hat ein Pfund pro Tag gezahlt – vierzehn Pfund die Woche, und wir haben doch im Moment die schwache Saison. Ich bin Witwe, und mein Junge bei der Navy hat mich viel gekostet. Aber diese letzte Handlung war zu viel, und ich habe ihm deswegen gekündigt. Deshalb ist er dann auch gegangen.‹
    ›Und was weiter?‹ frage ich.
    ›Das Herz ist mir leicht geworden, als ich ihn habe abfahren sehen. Mein Sohn hat zur Zeit Urlaub, aber ich habe ihm nichts von alledem erzählt, er hat nämlich ein hitziges Temperament und liebt seine Schwester sehr. Als ich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, sind mir schwere Lasten von der Seele gefallen. Aber leider klingelte es weniger als eine Stunde später an der Tür, und Mr. Drebber war zurückgekommen. Er war sehr erregt und offenbar stark angetrunken. Er hat sich den Zugang zu dem Raum erzwungen, in dem ich mit meiner Tochter saß, und hat unzusammenhängende Bemerkungen darüber gemacht, daß er den Zug verpaßt hätte. Dann hat er sich an Alice gewandt und ihr vor meinen Augen vorgeschlagen, mit ihm zu fliehen. »Du bist doch erwachsen«, hat er gesagt, »und kein Gesetz kann dich aufhalten. Ich habe mehr Geld, als wir brauchen. Kümmer dich nicht um die alte Schachtel da, sondern komm mit mir, einfach so und jetzt gleich. Du wirst wie eine Prinzessin leben.« Die arme Alice war so erschrocken, daß sie vor ihm zurückgewichen ist, aber er hat sie beim Handgelenk gepackt und versucht, sie zur Tür zu ziehen. Ich habe geschrien, und in diesem Moment ist mein Sohn Arthur ins Zimmer gekommen. Ich weiß nicht, was dann geschehen ist. Ich habe Flüche gehört und dumpfe Kampfgeräusche. Ich hatte allzu große Angst um aufzublicken. Als ich schließlich meinen Kopf gehoben habe, sah ich Arthur lachend in der Tür stehen, mit einem Stock in der Hand. »Ich glaube nicht, daß dieser feine Herr uns nochmal belästigt«, sagt er. »Ich gehe ihm nur nach, um zu sehen, was er jetzt macht.« Damit nimmt er seinen Hut und läuft hinaus auf die Straße. Am nächsten Morgen haben wir von Mr. Drebbers rätselhaftem Tod gehört.‹
    Madame Charpentier hat diese Erklärung mit vielen Seufzern und Unterbrechungen abgegeben. Manchmal hat sie so leise gesprochen, daß ich kaum die einzelnen Wörter verstehen konnte. Ich habe aber stenographisch alles notiert, was sie gesagt hat, also dürfte es keine Möglichkeit eines Irrtums geben.«
    »Das ist ziemlich aufregend«, sagte Sherlock Holmes gähnend. »Was ist dann geschehen?«
    »Als Madame Charpentier eine Pause machte«, fuhr der Detektiv fort, »war mir klar, daß der ganze Fall von einem einzigen Punkt abhing. Ich habe sie in einer Weise, die sich Frauen gegenüber immer als sehr wirksam erwiesen hat, mit den Augen fixiert und sie gefragt, wann ihr Sohn zurückgekommen ist.
    ›Ich weiß es nicht‹, sagt sie.
    ›Sie wissen es nicht?‹
    ›Nein. Er hat einen Schlüssel und hat sich selbst eingelassen.‹
    ›Nachdem Sie zu Bett gegangen waren?‹
    ›Ja.‹
    ›Wann sind Sie zu Bett gegangen?‹
    ›Gegen elf.‹
    ›Ihr Sohn war also mindestens zwei Stunden lang fort?‹
    ›Ja.‹
    ›Vielleicht auch vier oder fünf?‹
    ›Ja.‹
    ›Was hat er in dieser ganzen Zeit gemacht?‹
    ›Ich weiß es nicht‹, antwortet sie; dabei wird sie bleich bis in die

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