Eine Sünde zuviel
Einmal kommt die Stunde, für die ich lebe, für die ich mich geopfert habe … Moni, habe ich gedacht, wenn Luise zärtlich war, und das war selten … Moni, habe ich gefühlt, wenn ich die Hand ausstreckte und ihren Körper spürte … Moni, nur immer Moni … ich habe für dich gelebt, die ganze Zeit … und nun sind wir zusammen, nun kann uns nichts mehr trennen, nun ist uns das Schicksal entgegengekommen …« Er riß sie zu sich, seine heißen Hände fuhren über sie.
»Ernst!« schrie sie. »Das ist doch Irrsinn! Ernst! Sie ist meine Schwester … und sie ist blind –«
»Sie wird nie sehen, wie erfüllt unser Leben ist. Ist das nicht wie eine Fügung? Sie wird es nie erfahren, nie merken … sie wird in einem Traumhaus sitzen … und wir werden glücklich sein … wir alle …«
»Ich kann das nicht, Ernst! Ich kann sie nicht immer belügen … ich habe die Nerven nicht dazu …«
»Ich werde die Nerven für dich mit haben!« Er küßte sie wieder, und er spürte, als er sie umfing, wie sie zitterte und wie der innere Widerstand in seiner Glut verbrannte. Noch einmal versuchte sie, mit den Fäusten ihn wegzudrängen, sich zur Seite zu wälzen, die Lippen fest zusammenzupressen. Dann, ganz plötzlich, als schalte man ein Licht aus, wurde sie schlaff, erstarb aller Widerstand, lag sie hilflos in seinen Armen, um ebenso plötzlich wieder zu entbrennen, aber anders, gebend und fordernd, mit spitzen Nägeln, die sich in seinen Rücken gruben und einen Schmerz in ihm aufrissen, den er wie Wonne empfand.
»Es ist Wahnsinn, Ernst …«, stammelte sie. »Mein Gott, wie wahnsinnig sind wir …«
Dann schwieg sie, und das Gefühl, eine Frau zu sein, besiegte den letzten Rest von Reue –
Am übernächsten Tag holte Ernst Dahlmann seine Frau Luise nach Hause. Er führte sie zärtlich zum Wagen, küßte sie auf die Stirn und sagte:
»Es ist schön, daß du zurückkommst, Luiserl.«
Sie lächelte und streichelte seine Hand.
»Jetzt brauche ich dich doppelt, Ernst –«
»Ich weiß, Luiserl.« Er küßte sie auf die trüben Augen. »Ich werde immer für dich dasein … das weißt du –«
Sie lehnte sich in die Polster zurück und nickte.
»Das macht mir ja alles so leicht«, sagte sie leise. »Wenn ich euch nicht hätte … dich und Monika –«
*
Sechs Monate sind kein Begriff mehr, wenn es dauernd Nacht ist. Die Zeit wird lediglich ein Geräusch … wenn der Wecker in der Nachttischschublade klingelt, ist es sieben Uhr morgens … wenn Monika kommt und beim Anziehen hilft, ist es halb acht … die Post kommt um zehn … um halb elf kommt ein Lehrer, der mit unendlicher Geduld die Blindenschrift lehrt … um ein Uhr wird gegessen … dann Schallplatten, Radio, Monika erzählt, ein Spaziergang durch den Schnee … man spürt die Wintersonne auf der Haut … und der Abend ist da, wenn Ernsts Stimme um sie ist, wenn er vom Tage erzählt, von lästigen oder lustigen Kunden, wenn man Wein trinkt und eine Zigarette raucht, einer Oper zuhört oder einem Theaterstück, bei dem die Phantasie mitspielt, wenn man aus den Worten vor dem inneren Auge die Handlung rekonstruiert.
Wieder ein Tag herum … das ist ein Gedanke, wenn sie wieder im Bett liegt. Nur ein Gedanke, kein Zeitbegriff mehr. Aber eine Sehnsucht ist da … eine nie gekannte wilde Sehnsucht nach Zärtlichkeit. Dann tastet sie nach ihm, sucht ihn, hält ihn fest.
Ernst Dahlmann war von einer erstaunenswerten Geduld und Zärtlichkeit Luise gegenüber. Selbst Dr. Ronnefeld, der oft erschien und nach ihr sah, wunderte sich darüber, wie mit der Endgültigkeit der Blindheit auch bei Dahlmann eine Wandlung zum Besseren vor sich ging. Kein Wunsch blieb unerfüllt … er führte sie in die Oper, fuhr mit ihr über Land, nur damit sie das Rauschen der Bäume hörte, das Gurgeln des Flußwassers, das Tropfen der Nässe von den Zweigen, das Singen der Vögel, das Brummen der Kühe und das Schnattern der Gänse.
»Wie lieb du bist«, sagte sie immer wieder und lehnte den Kopf an seine Schulter. »Ich merke gar nicht, daß ich nichts sehe. Durch dich sehe ich alles –«
Ein paarmal wachte sie nachts auf und tastete zur Seite. Das Bett Ernst Dahlmanns war leer, die Decke zurückgeschlagen. Am Morgen erzählte er, daß die Apotheke Nachtdienst hatte und einige Rezeptabholer gekommen seien.
»Erst ab vier Uhr morgens war es still«, sagte er mit seinem sarkastischen Lachen. »Daß die Leute auch immer nachts krank werden müssen –«
Es waren die Nächte, die
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