Eine Sünde zuviel
einige Minuten abseits ging. Entweder wollte sie Blumen pflücken – was man dann auch gemeinsam tat –, oder sie holte Eis, was länger als gewöhnlich dauerte, weil Hin- und Rückweg zum Eiswagen zu einem Gespräch mit dem Lehreraspiranten ausgenutzt wurde.
An einem heißen Sommertag – Fräulein Pleschke war wieder zum Eiswagen unterwegs und Luise Dahlmann sonnte sich auf der Bank, weit zurückgelehnt, die Augen geschlossen, das Kleid von den Schultern abgestreift – setzte sich jemand neben sie auf die Bank. Sie hatte die Schritte knirschen hören, spürte das Zittern des Holzes, als sich der Spaziergänger setzte, vernahm das Knistern einer Zeitung und das leise Ritschen von Stoff, wenn man sich beim Niedersetzen die Hosen etwas höher zieht, damit sie an den Knien keine Beulen bekommen.
Also ein Mann, dachte Luise Dahlmann. Sie ließ den Kopf zur Sonne gewandt, die Augen geschlossen, nur das Kleid ließ sie mit einer leichten Schulterbewegung höher rutschen und den Brustansatz wieder verdecken.
»Ein herrlicher Tag, nicht wahr?« sagte der Mann neben ihr. Luise nickte. Eine schöne Stimme hat er, dachte sie. Melodisch und dunkel. Und eine gute Sprache. Er verschluckt keinen Konsonanten, spricht wie auf einer Bühne.
»Wirklich. Ein wundervoll klarer Himmel –«, sagte sie und legte die Hand unter ihren Nacken. Der Mann neben ihr sah sie verwundert, ja verblüfft an. Zwar war der Himmel strahlend blau und von Sonne überglüht, aber nicht klar. Dicke, weiße Wolken, zusammengeballt wie riesige Schneebälle, trieben im trägen Sommerwind, schluckten die Sonne, gaben sie wieder frei und zerteilten die Strahlen.
Der Mann neben Luise beugte sich etwas vor und sah ihr ins Gesicht. Dann wich seine Verwunderung einem tiefen Ernst, und er lehnte sich zurück.
»Ja, ein herrlicher, klarer Himmel«, sagte er. »Ein unwahrscheinliches Blau. Nach dem langen Winter und dem nassen Frühling tut es gut, Frau Dahlmann –«
Luises Kopf fuhr herum. Unwillkürlich riß sie die Augen auf … der Mann auf der Bank sah in die trüben, toten Augen. Er erschrak, und er war in diesem Moment froh, daß sie dieses Erschrecken nicht wahrnehmen konnte.
»Sie kennen mich?«
»Aber ja. Ich habe oft in Ihrer Apotheke gekauft. Und ich las auch von dem entsetzlichen Unglück. Mein Name ist Sanden, Robert Sanden. Ich bin Schauspieler am Stadttheater –«
»Robert Sanden.« Luise lächelte leicht. »Ich habe auch Sie oft gesehen … und in der letzten Zeit leider nur gehört. Warten Sie mal … zuletzt waren Sie der Heink in Bahrs ›Das Konzert‹. Stimmt's?«
»Ja.«
»Und vorher habe ich Sie gesehen, nein gehört, muß man ja sagen, als Bolingbroke in ›Ein Glas Wasser‹. Sie waren köstlich darin, von einem beißenden Sarkasmus –«
»Danke.«
Das Gespräch versandete. Was sollte man sagen? Die Situation war irgendwie peinlich; für einen sehenden Menschen gibt es tausend Dinge, über die man reden kann … ein Blinder lauscht hinein in die ewige Nacht und schafft sich eine eigene Welt, in der er nur allein leben kann, weil niemand sie so sieht wie er.
»Warum sind Sie so still, Herr Sanden?« fragte Luise Dahlmann. Robert Sanden zuckte zusammen und wischte sich verlegen über den Mund.
»Ich habe an etwas denken müssen, Frau Dahlmann.«
»Erzählen Sie mir etwas aus Ihrer schönen Theaterwelt. Sehen Sie meine Pflegerin?«
»Dort hinten steht ein Mädchen zusammen mit einem jungen Mann … wenn sie das ist?«
»Ein junger Mann …« Luise lächelte schwach. »Darum Eisholen, Blumenpflücken …«
»Wie bitte?«
»Ach nichts, Herr Sanden.« Sie legte den Kopf wieder zurück auf die Banklehne und schloß die Augen. »Es muß schön sein, jeden Abend auf der Bühne zu stehen und die Menschen in eine andere Welt entführen zu können.«
»Es ist anstrengend. Man muß jeden Abend in eine andere Haut, in eine andere Seele kriechen.«
»Und woran haben Sie eben denken müssen? Ist es fatal, darauf zu antworten, so vergessen Sie die Frage.«
»Es ist nicht fatal, Frau Dahlmann.«
»Sie haben über mich nachgedacht, nicht wahr?«
»Ja.«
»Sie haben gedacht: Ich kenne sie, wie sie lustig in der Apotheke stand. Mein Gott, was ist aus ihr geworden! – Nicht wahr, das haben Sie gedacht.«
»Nein.«
»Ich weiß, daß Lügen barmherzig sein können –«
»Ich habe an etwas anderes denken müssen.«
»Und an was?«
»Ich habe gedacht: Warum versucht man nicht alles, wenigstens ein Auge zum Sehen zu
Weitere Kostenlose Bücher