Eine unberührte Welt - Band 4 (German Edition)
eine Offenbarung, die Auswahl der Weine ein Traum, und in der Ecke mit den Backwaren roch es wie im Himmel.
»Und gar nicht teuer!«, flüsterte Juliane. »Im Gegenteil, billiger als bei uns im –«
»Auch das günstigste Sonderangebot kostet Geld«, widersprach Ulrich kategorisch.
Also widerstanden sie allen Versuchungen tapfer und schritten schließlich mit nichts als einem Glas Meerrettich in der Hand auf die Kassen zu, vor denen lange Schlangen turmhoch gefüllter Einkaufswagen warteten.
Im letzten Moment schnappte sich Juliane einen Cremetiegel aus dem Regal mit den Kosmetika. »Gesichtscreme«, erklärte sie. »Brauch ich dringend.«
Ulrich sagte nichts. Erst auf dem Weg zum Auto brummte er etwasvon wegen, dass der Laden tatsächlich nicht schlecht gewesen sei und sie in Zukunft durchaus öfter mal hier einkaufen konnten.
Doch so oft sie es auch versuchten, sie fanden den Supermarkt nicht wieder. Sie mussten in dem Nebel völlig die Orientierung verloren haben.
Ein Jahr später, wieder an Weihnachten, hielt Ulrich das Meerrettichglas in der Hand und studierte das Etikett. »Das hat gar kein Haltbarkeitsdatum. Meinst du, der ist noch gut?«
»Meerrettich hält lange«, sagte Juliane.
Ulrich schraubte den Deckel ab, roch am Inhalt. »Ja, ich glaub, der ist noch gut. Und noch halb voll, wäre schade drum gewesen.« Er tat sich einen ordentlichen Klecks auf den Teller. »Scheint irgendwie nie alle zu werden, oder? Das ist doch das Glas, das wir damals –«
»Ja«, sagte Juliane. »Schon seltsam. Meine Creme habe ich auch noch.«
Zwei Jahre später, am Abend des zweiten Advents, waren sie wieder einmal zu Gast bei Julianes Freundin Gerda. Sie saßen in ihrer gemütlichen kleinen Küche und aßen einen wunderbaren Tafelspitz mit Salzkartoffeln, dazu Meerrettich.
»Der gleiche, den wir auch haben«, meinte Ulrich und nahm das Glas in Augenschein. »Auch kein Haltbarkeitsdatum. Unserer ist immer noch halb voll oder so, den müssen wir mal wegwerfen.«
»Wieso?«, fragte Gerda. Gerda war nur wenig älter als sie beide, wirkte mit ihrem graumelierten Haar und ihrer aufrechten Haltung aber wie eine weise Alte.
»Weil wir ihn vor ziemlich genau zwei Jahren gekauft haben«, lachte Ulrich.
»Und wo?«
»Bei einem Supermarkt, der hieß … Juliane, wie hieß der noch mal? Das war eine verrückte Geschichte.« Sie erzählten sie ihr. Von der Fahrt durch den Nebel und wie sie sich gestritten hatten wegen dieses fehlenden Glases Meerrettich für ihr traditionelles Weihnachtsessen.
Gerda hatte große Augen bekommen. »Und ihr habt nur ein Glas Meerrettich und eine Gesichtscreme gekauft? Ja, kennt ihr denn die Legende nicht?«
Ulrich klappte der Kinnladen herunter. »Was für eine Legende?«
»Der Supermarkt im Nebel. Der magische Supermarkt. Nie gehört?«
Juliane und Ulrich schüttelten die Köpfe, synchron.
»Was man dort eingekauft hat, geht einem nie wieder aus«, erklärte Gerda ernst. »Allerdings gelangt man nur ein einziges Mal im Leben dorthin – und zwar dann, wenn man am wenigsten darauf gefasst ist.«
Juliane wandte den Kopf. Ihr Blick wanderte über die Regale der angrenzenden Speisekammer, die voll standen mit Dosen, Packungen, Flaschen und Körben voller Obst und Gemüse. »Du hast jedenfalls gut reagiert«, sagte sie.
Auf der Heimfahrt schwiegen sie beide lange, bis Juliane schließlich sagte: »Einkaufslisten, hmm? Speisepläne?«
Ulrich sagte nichts.
»Dieses Weihnachten«, fuhr Juliane fort, »kochen wir auf jeden Fall was anderes als sonst.«
Ulrich räusperte sich. »Und was?«
Ihr Kinn schob sich vor, während sie hinaussah in die kalte, klare Winternacht. »Weiß ich noch nicht. Das entscheiden wir ganz spontan.«
© 2007 Andreas Eschbach
Rain Song
Es war vor langer, langer Zeit. Ich war noch wesentlich jünger und schlanker als heute, und ich weilte in Griechenland, in einer beschaulichen kleinen Ferienanlage. Es war Mai, und das Wetter war herrlich.
Die Ferienanlage war in der Tat so klein und beschaulich, dass man mit den anderen Gästen durchaus in Kontakt kam. Wie viel waren es? Ein Dutzend vielleicht, soweit ich mich erinnere. Man saß abends lange auf der Terrasse beisammen, bei Ouzo und Retsina, Mondlicht und Zikadengezirpe, und redete über Gott und die Welt.
Einer war dabei, der eine Gitarre hatte, und er brachte uns eines Abends alle auf die Beine, um gemeinsam zu singen und zu tanzen. Keinen Sirtaki, sondern indianische Tänze. Behauptete er
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