Eine unberührte Welt - Band 4 (German Edition)
zumindest. Es waren einfache Melodien und einfache Schritte, und es war gut nachvollziehbar, dass man sich damit in so etwas wie eine Trance hineintanzen kann.
Am nächsten Morgen war der Himmel bewölkt. Das sei nicht ungewöhnlich um diese Jahreszeit, meinte der Leiter der Anlage. Irgendjemand meinte scherzhaft, vielleicht habe man am Abend zuvor versehentlich einen Regentanz getanzt und sich damit den Rest des Urlaubs verdorben.
Ich weiß noch, wie sich meine Augen weiteten, als ich das hörte. Was für eine Idee für eine Geschichte!
Abergläubische Leute machen mich rasend. Ich meine, man hat uns gewarnt, oder? Und nicht nur einmal. Das Wetter hat schon lange verrückt gespielt, und all die Wissenschaftler, die uns in den Ohren gelegen sind von wegen, dass wir zu viele Treibhausgase in die Luft blasen, zu viele Gifte, zu viel Dampf und so weiter. Man konnte es irgendwann doch nicht mehr hören.
Also: Das Klima stand schon lange dicht davor, umzukippen. Und dann ist es eben umgekippt. Darüber sollten all die Leute mal nachdenken, die jetzt hinter mir her sind.
Ich jedenfalls denke viel über all diese Dinge nach. Als Briefträger habe ich eine Menge Zeit zum Nachdenken, wenn ich die nassen Straßen entlangstapfe, während der Regen meine Hosen durchweicht, meine Brille beschlagen lässt und mir unter dem Regenmantel den Rücken runterläuft. Die Gärten stehen alle unter Wasser. Was einmal gepflegter englischer Rasen war, ist nur noch bleiche, schlammige Masse. Vielen Schlammlöchern kann ich ausweichen, aber oft muss ich durch Wasserströme waten, um zu den Briefkästen zu gelangen. Die Briefe sind oft schon durchweicht, wenn ich sie in die angerosteten Schlitze stopfe. Für Pakete gab es bis vor kurzem Schutzsäcke aus Plastik, aber die sind jetzt aus. Es verschickt außerdem kaum noch jemand Pakete.
In den Straßengräben sammeln sich ertrunkene Mäuse und Ratten. Es ist Juli, aber es ist kalt und nass. Jeder, dem ich begegne, sieht aus, als wollte er jeden Moment in Tränen ausbrechen. Wie der Himmel, der nicht aufhört zu weinen.
Ich sage mir, dass ich trotz allem Glück gehabt habe. Das Haus, das ich bewohne, hat meiner Tante gehört, die zeitlebens Angst hatte, die Deutschen könnten den Krieg neu anfangen, und deswegen erstaunliche Vorräte von allem gehortet hat. Ich kann es mir leisten, ein Zimmer fast durchgehend zu heizen, sodass es nahezu schimmelfrei bleibt. Ich schaffe es oft sogar, meine Kleidung wieder trocken zu kriegen, was heutzutage der größte denkbare Luxus ist. Das sage ich mir, wenn ich abends in meinem Zimmer sitze, die Wäscheleinen vor dem Ofen anstarre und dem wütenden Pladdern auf Fensterscheiben und Vordächer zuhöre. Und dem Geräusch, mit dem all das Wasser die Abflussrohre hinabgurgelt.
Leider wird das Brennholz knapp. Danach bleiben noch fünf große Kanister Heizöl. Am längsten werden die Vorräte reichen. Alles in Dosen, was nicht besonders gesund ist – mir sind schon zwei Zähne ausgefallen –, aber wenn man bedenkt, wie unbezahlbar Nahrungsmittel heute sind, ein Segen. Auf den überfluteten Feldern wächst inzwischennichts mehr, alles, was es noch gibt, stammt aus ein paar Treibhäusern. Für Nahrungsmittel wird gemordet. Die Regierung gibt Bezugsscheine aus, aber sie hat immer weniger zu verteilen. Und ich bin so ungefähr der Letzte, der sich Hoffnung machen dürfte, einen Bezugsschein zu kriegen.
Natürlich war ich nicht immer Briefträger. In meinen besseren Zeiten, in unser aller besseren Zeiten, als die Welt noch in Ordnung war, bekleidete ich den Posten des A&R-Managers bei einer der ganz großen Schallplattenfirmen: ein aufreibender Job, der zu einem nicht geringen Teil darin bestand, sich die Nächte in Kneipen und In-Lokalen um die Ohren zu schlagen auf der Suche nach Bands und Sängern, die genug drauf hatten für eine professionelle Karriere. Ich bekam eine Menge zweitklassiger Sängerinnen ins Bett, die es auf die Tour schaffen wollten, aber zu einer festen Beziehung hat es nie gelangt. Ich hätte auch nicht gewusst, wie ich eine hätte unterbringen sollen in meinem High-Performance-Lebensstil.
Ich war gut in dem Job. Richtig gut. Wenn ich aufzählen würde, wen ich alles entdeckt und unter Vertrag genommen habe: Sie würden leuchtende Augen kriegen.
Ich selber wurde allerdings ziemlich nachdenklich, als ich in einer meiner wenigen ruhigen Minuten einmal alle Namen auflistete und jeweils dazuschrieb, wie viel Geld meine Company mit ihnen
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