Eine unberührte Welt - Band 4 (German Edition)
Stunde vor Beginn der Show war ich noch backstage in meinem Büro und mit diversen Telefonaten beschäftigt, als ein Mann hereinkam. Er sah aus wie ein Penner, aber ich war mir ziemlich sicher, dass sich kein Penner auch nur das billigste Ticket hätte leisten können, deshalb legte ich die Hand über die Sprechmuschel und fragte höflich, was er wolle.
»Ich muss mit Ihnen reden«, stieß er hervor.
Ich roch Alkohol. Ich versprach, zurückzurufen, legte auf und wählte eine andere Nummer. Eine Notnummer, die zweiSicherheitsleute in Bewegung setzen würde. »In Ordnung«, sagte ich, um den Eindringling in der Zwischenzeit nicht unnötig aufzuregen. »Darf ich fragen, wer Sie sind?«
»Ich bin Medizinmann White Eagle vom Stamm der Lakota«, erklärte er mit wildem Augenrollen. »Ich bin hier, um zu fragen, ob Mister Maddison heute Abend das Regenlied singen wird.« Er trug tatsächlich etwas um den Hals, das wie eine Art indianisches Lederamulett aussah, wie man es auf Fotos von Schamanen manchmal sieht.
»Der Rain Song ist Don Maddisons größter Hit«, sagte ich. »Natürlich wird er ihn singen.«
Der Mann schnaubte. »Er hat kein Recht dazu. Das Lied gehört ihm nicht. Das Lied gehört meinem Volk. Und es ist heilig.«
Ich war nicht in der Stimmung, ihn über das internationale Urheberrecht zu belehren und darüber, dass es weltweit anerkannte Übereinkunft ist, jedes kreative Werk, sei es ein Lied, ein Roman oder sonst etwas, siebzig Jahre nach dem Tod seines Urhebers als Bestandteil des kulturellen Erbes der Menschheit zu betrachten, zur freien Verfügung für jedermann. Ich seufzte nur und erwiderte: »Wie ich gerade gesagt habe, es ist sein größter Hit. Die Leute werden ihn nicht gehen lassen, ehe er ihn gesungen hat. Keine Chance.«
Er kam auf mich zu, kam mir ungemütlich nahe. »Sie dürfen das nicht erlauben. Es ist ein heiliges Lied, und es hat Macht. Seine Worte sind Worte göttlicher Macht. Seine Melodie ist heilig. Sie wissen nicht, was geschehen wird, wenn all diese Leute es gemeinsam singen.«
Wie ich schon erwähnte: Abergläubische Leute machen mich rasend. »Quatsch«, sagte ich. »Er hat es auf der Tournee schon mit Tausenden von Leuten gesungen. Und nichts ist passiert.« Ich grinste spöttisch und wiederholte betont: »Nichts.«
Etwas in seinem Gesicht veränderte sich. Er sah mich auf eine Weise an, die mich fast an alles hätte glauben lassen können. Höchste Zeit, dass die Wachleute kamen.
»Nein«, sagte er düster, »weil es nicht der richtige Zeitpunkt war.«
Endlich kamen sie, schnappten ihn bei den Armen und zerrten ihn aus meinem Büro. »Heute Nacht ist Vollmond!«, konnte ich ihn nochschreien hören, während Joe und Bill ihn den Korridor entlang schleppten. »Vollmond …!«
Es stimmte: Ein voller Mond hing an einem klaren blauen Himmel, und der Abend war so warm und sanft, wie ein Sommerabend nur sein konnte, als Don Maddison auf die Bühne trat und die Menge ihm zujubelte, als wäre es ein Rockkonzert. Einen Augenblick später war es wieder still – einhundertvierundvierzigtausend Leute, die in absoluter Stille zuhörten. Er hatte sie. Und wieder einen Moment später begannen sie alle miteinander zu singen.
Er begann mit dem Rain Song. Auf meine dringende Bitte hin, denn ich hatte wirklich Sorge, der verrückte Medizinmann könne mit ein paar Polizisten und einer einstweiligen Verfügung wieder auftauchen, noch ehe das Konzert vorüber war.
Ich stand am Bühnenrand und sah zu. Ich will erst gar nicht versuchen zu beschreiben, wie es war oder wie es sich anfühlte, da zu stehen, das ganze Wembley-Stadion singen zu hören und Hunderttausende von Armen wogen zu sehen wie Gras im Wind – was immer ich darüber sagen würde, klänge nur wie ein armseliges, weit entferntes Echo einer überwältigenden Erfahrung. Alles, was ich sagen will, ist, dass ich da stand und zusah, und während ich zusah, bemerkte ich, dass sich der blaue Himmel mit Wolken sprenkelte.
Zarte weiße Wolken, aber ich wurde ein wenig unruhig. Einhundertvierundvierzigtausend Kehlen sangen den Rain Song, und auf einmal wünschte ich mir, ich hätte sie stoppen können. Einhundertvierundvierzigtausend Sänger, die das heilige Lied zum Himmel hinaufschickten. Die die Worte sangen, die Macht hatten.
Es fing zu regnen an, noch ehe das Lied vorüber war.
Das war vor drei Jahren. Seit diesem Tag hat es nie wieder aufgehört zu regnen.
© 2007 Andreas Eschbach
Garten Eden
Einer der häufigsten Fehler,
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