Eine unberührte Welt
Ein paar Leute hatten einen Prospekt mitgenommen, aber noch keiner davon hatte sich bei ihm in der Praxis blicken lassen. Behauptete er zumindest. »Kennen Sie eigentlich Ihre Kunden mit Namen?«
»Mehr oder weniger«, sagte ich.
»Ich hätte nämlich eine Bitte. Eine etwas ungewöhnliche Bitte, um es gleich zu sagen.«
Ich hörte mir erst mal an, was er wollte. Nämlich, dass ich jedes Mal, wenn ich jemandem die Haare schnitt, ein Büschel davon für ihn beiseiteschaffte. Er würde mir kleine Röhrchen geben, aus Plexiglas und luftdicht verschließbar, dazu selbstklebende Etiketten, auf die ich den Namen schreiben sollte. Und für jede einzelne Probe gab es satt Geld, egal ob der Betreffende je zu ihm in die Praxis kam oder nicht.
»Hmm«, machte ich. Ich meine, man wird skeptisch, wenn man so was hört, oder?
»Sie fragen sich, was ich mit den Haarproben anfange.« Er sah mich im Spiegel an, lächelte, bis ich nickte, und erklärte mir dann die Hintergründe. »Schauen Sie, man weiß heute, dass viele, wenn nicht die meisten der unklaren Schmerzen von einer Belastung durch Umweltgifte herrühren. Schwermetalle, Pestizide und was heutzutage sonst noch so alles in der Luft und im Wasser ist. Trotzdem kümmert sich praktisch kein Arzt darum, weil man aufwendige und langwierige Tests machen muss, um so was nachzuweisen, und die zahlt keine Krankenkasse. Also verschreibt man lieber ein Schmerzmittel und fertig. Bloß ist damit niemandem geholfen. Damit kuriert man bloß an den Symptomen herum.«
Ich ließ mir das durch den Kopf gehen und sagte, ich sähe noch nicht, was das mit Haarproben meiner Kunden zu tun hätte.
»In Haaren kann man alles nachweisen, was sich in so einem Körper ansammelt. Sie erinnern sich doch an die Geschichte mit diesem Fußballtrainer, der angeblich kokainsüchtig war? Da hat man auch eine Haarprobe genommen. Und genau wie Drogen kann man in Haaren Blei, Cadmium, DDT und so weiter nachweisen. Alles, was man für die Schmerztherapie wissen muss.«
»Aber Sie können doch einfach den Leuten, die in Ihre Praxis kommen, eine Haarsträhne abschneiden. Da brauchen Sie doch mich nicht dazu.«
»Im Prinzip ja. Bloß, einen umfassenden Scan hier in Deutschland machen zu lassen ist schlicht unbezahlbar. Mein Trick ist, dass ich Kontakt zu einem Labor in der Ukraine habe, die solche Analysen genauso gut erstellen, aber zu einem Bruchteil dessen, was es hierzulande kosten würde. Nur brauche ich da entsprechenden zeitlichen Vorlauf – allein der Postweg ist ein Albtraum. Das würde zu lange dauern für jemanden, der mit akuten Schmerzen zu mir kommt, verstehen Sie? Deshalb will ich das vorher erledigen. Und es ist um so vieles billiger, dass es sich selbst dann noch lohnt, wenn ich von zwanzig Analysen neunzehn nie brauche.«
Ich überlegte, während ich ihm den Nacken rasierte. »Sie wollen also, wenn jemand zu Ihnen in die Praxis kommt, schon einen fertigen Befund in der Schublade haben?«
»Genau.«
»Ist das denn legal?«
Er verzog das Gesicht. »Na ja. So richtig verboten ist es nicht, aber ich glaube, man hängt es besser nicht an die große Glocke.«
Ich verstand, was er meinte. Mein Sohn stand damals mit seinem Jurastudium kurz vor dem Abschluss, und was er so erzählt hat im Lauf der Jahre war oft ziemlich haarsträubend, wenn ich das mal so sagen darf.
Jedenfalls, ich machte es. Er ließ mir einen ordentlichen Vorrat an Röhrchen da, und ich entwickelte eine unauffällige Methode, die Proben einzusammeln: Beim Zusammenfegen der Haare, wenn ich am Schluss mit der Schaufel komme, halte ich eines der Probenröhrchen in der Hand, stopfe nebenbei ein ordentliches Büschel hinein, und dann, zack, den Stopfen drauf und das Ding in der Tasche verschwinden lassen. Danach ging ich immer kurz nach hinten, pappte das Namensschild dran und tat es in eine Schublade, zu der nur ich den Schlüssel habe.
Es war auf jeden Fall das bessere Geschäft. Er zahlte sofort bei Abholung, und ohne Belege. Und steuerfrei ist Geld ja glatt das Doppelte wert heutzutage, bei all den Steuern und Abgaben. Jedenfalls, innerhalb kürzester Zeit stand zu Hause einer von diesen riesigen Fernsehern mit Plasmabildschirm und der passende DVD-Player dazu, und meine Frau staunte nicht schlecht, wie oft ich sie plötzlich zum Essen ausführte.
Keine zwei Wochen übrigens, nachdem ich damit angefangen hatte, Haarproben zu sammeln, klagte das erste Mal jemand über Schmerzen in der Schulter, ein Werbegrafiker, den ich
Weitere Kostenlose Bücher