Eine unberührte Welt
beruhigen wollte. »Voodoo«, sagte sie, und wenn ich mich recht entsinne, bebte ihre Unterlippe dabei. »Er macht Voodoo.«
»Kann schon sein«, sagte ich ahnungslos, »so im Detail hat er es mir nicht erklärt …«
Sie unterbrach mich. »Sie verstehen nicht. Voodoo ist keine Heilmethode. Voodoo ist Zauberei. Haitianische Zauberei.«
Ich wollte so was sagen wie, dass so manches, was den Leuten früher wie Zauberei vorgekommen ist, im Lichte moderner Wissenschaft seine natürliche Erklärung findet, aber sie hatte in dem Moment etwas an sich, das mich verunsicherte. Also fragte ich, wie sie das meinte.
»Wenn ein Voodoo-Zauberer etwas vom Körper eines anderen Menschen besitzt, Haare oder Fußnägel zum Beispiel, kann er Macht über diesen Menschen gewinnen«, sagte sie. Sie erklärte mir auch, wie das geht. Dazu fertigt der Zauberer eine Puppe an, die für den betreffenden Menschen steht. Sie muss demjenigen nicht mal ähneln, es geht nur darum, dass sie seine Haare oder Nägel oder was auch immer enthält, dass sie die für den jeweiligen Zauber richtige Farbe hat und dass man die Zauberformeln spricht, die die Verbindung herstellen. Diese Puppe heißt Ouanga. Um jemandem Schmerz zuzufügen – oder ihn zu töten –, muss der Ouanga schwarz sein. Wenn der Zauberer sich in Trance versetzt und dem Ouanga eine Nadel in, sagen wir, den Bauch sticht, dann kriegt der Betreffende Bauchkrämpfe, oder ihm wird kotzübel, je nachdem. Sticht er der Puppe in den Nacken, ist ein verspannter Rücken noch das Harmloseste. Und ein Stich ins Herz der Puppe tötet den Betreffenden.
»Ihr Doktor heilt die Leute nicht, er verzaubert sie. Erst macht er ihnen die Schmerzen, und wenn sie zu ihm kommen und für eine Behandlung zahlen, löst er den Zauber wieder«, sagte sie.
Ich musste daran denken, wie alles begonnen hatte. Dass die Leute sich über Schmerzen beklagt hatten, das war tatsächlich erst losgegangen, nachdem ich dem Doktor die ersten Haarproben gegeben hatte. Trotzdem schüttelte ich den Kopf. Wenn einem jemand so was erzählt, fühlt man sich ja irgendwie verpflichtet, skeptisch zu sein, oder? »Therésa«, sagte ich, »nicht dass ich was gegen die Sitten und Gebräuche Ihrer Heimat sagen will, aber das ist einfach Aberglaube. Ich meine, wie soll das funktionieren?«
»Es funktioniert«, sagte sie. »Glauben Sie mir.«
»Nein. Das ist Unsinn.«
Sie sah mich an. Überlegte. »Mein Großvater war noch ein Voodoo-Meister«, sagte sie dann. »Ich habe gesehen, wie er es gemacht hat. Und ich hätte damals nicht fliehen können, wenn er die Männer, die uns verfolgt haben, nicht verzaubert hätte. Ich wäre nicht hier, verstehen Sie?«
Wie sie das sagte, das jagte mir einen Schauder über den Rücken. Ich weiß nicht mehr, was ich antwortete, aber jedenfalls schaute ich das Probenröhrchen in meiner Hand an und warf es dann in den Müll. Und bat sie, niemandem etwas davon zu erzählen.
In den Tagen darauf ging ich in die Stadtbibliothek und blätterte in ein paar Büchern zum Thema. So richtig gute Bücher gibt’s dazu nicht, aber ich fand jedenfalls nichts, das dem, was Therésa erzählt hatte, widersprochen hätte.
Als mein Sohn am Wochenende zum Essen kam, brachte ich das Gespräch darauf, möglichst unauffällig natürlich und allgemein gehalten, aber ich glaube, es war gut, dass er im Prüfungsstress steckte, sonst wäre es ihm trotzdem komisch vorgekommen. Er meinte jedenfalls, es gäbe im Strafgesetzbuch eigens einen Paragrafen, dass Praktiken wie Totbeten, Verzaubern und so was nicht strafbar sind. Ich habe vergessen, welche Nummer der Paragraf hat, aber es heißt abergläubischer Tötungsversuch, glaube ich.
Ich schlief plötzlich schlecht, das kann ich Ihnen sagen. Wenn ich durchs Wohnzimmer ging und den riesigen Fernseher da stehen sah, bezahlt vom Schwarzgeld eines Schwarzmagiers, wurde mir ganz anders. Im Geiste sah ich einen großen, geheimen Kellerraum voller Aktenschränke mit kleinen Schubladen, auf jeder Schublade stand außen ein Name, und innen lag ein schwarzer Ouanga. Ich sah den Arzt vor mir, wie er den Keller aufschließt, eine Liste in der Hand mit den Namen der Patienten, die an dem Tag da gewesen sind, und wie er der Reihe nach deren Schubfächer öffnet und die Nadeln aus ihren Ouangas zieht, um ihnen die Schmerzen zu nehmen. Und in meiner Vorstellung hatte er eine zweite Liste dabei, die ihm sein Computer ausgedruckt hatte, Namen von Patienten, die schon lange nicht mehr da gewesen
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