Eine unberührte Welt
die Zusatzregel ein, die bis heute gilt, dass nämlich die endoranische Mannschaft mit 13 Spielern antritt.
Chancengleichheit schafft das nicht wirklich. In den Weltmeisterschaften seither ist die Equipe von Endora noch nie über die Vorrunde hinausgekommen, eigentlich auch noch nie über den letzten Gruppenplatz. Die Endoraner brauchen sich nicht an den Qualifikationen zu beteiligen, werden heutzutage aber ausgelost wie alle anderen auch und sind aus verständlichen Gründen sehr beliebt als Gruppenmitglieder.
Im Jahr 2010, der ersten sozusagen intergalaktischen Fußballmeisterschaft, wurde es allerdings noch so arrangiert, dass die erste gültige Begegnung zwischen Endora und dem Mutterland des Fußballs, England, stattfand. Das war das ohne Frage meistgesehene Fußballspiel aller Zeiten, und es endete mit wenig überraschenden 9:0 Toren für die Engländer.
Zur allgemeinen Verblüffung machte das den Endoranern nicht das Geringste aus. Sie feierten ihre Mannschaft mit ansteckender Ausgelassenheit, und nach den Vorrundenspielen hockten sie immer noch im Publikum, schwenkten Fahnen ihrer Favoriten, bemalten sich die großäugigen Gesichter, stimmten fremdartige Gesänge an (von denen, was wenige wissen, heute übrigens mindestens zwei zum Standardrepertoire in Stadien gehören, selbst bei Bundesligaspielen und ohne dass auch nur ein Endoraner anwesend ist), tanzten in den Straßen, na ja, und damals stellte sich dann auch heraus, dass man Endoraner mit Alkohol in keiner Weise beeindrucken kann.
Seither gehören sie zu einer Fußball-WM wie das Endspiel oder der Pokal.
Großvater meinte auch, dass das alles eigentlich auf einem Missverständnis beruht. Weil sie uns zuerst so erschreckend fremd vorkamen und so furchtbar beeindruckende Raumschiffe besaßen, dachten wir, wir müssten sie mitspielen lassen. Aber das hätten wir nicht müssen. Sie wären auch mit einem Kontingent Eintrittskarten und einem Freundschaftsspiel dann und wann zufrieden gewesen.
Heute kennen wir sie besser. Sish’nilli’go, jener endoranische Spieler, der das erste und für lange Zeit einzige Tor für Endora geschossen hat, sitzt heute im FIFA-Gremium, aber er ist eben nur einer und wäre leicht zu überstimmen. Würde die FIFA beschließen, die Endoraner künftig durch die Qualifikationsrunden zu schicken – was in der Praxis hieße, sie von den Weltmeisterschaften auszuschließen –, die Endoraner würden »Schadi!« sagen, aber unverdrossen weiterhin Autogramme sammeln und Fußballzeitungen kaufen.
Warum also lassen wir sie trotzdem weiter mitmachen? Warum haben wir sie gern dabei, diese glatzköpfigen, großäugigen Gestalten mit der perlmuttfarben schimmernden Haut?
Bestimmt nicht, weil wir so leicht gegen sie gewinnen. Und der Grund, der meistens genannt wird – dass wir die Endoraner um so vieles beneiden, dass wir auch gerne solche tollen Raumschiffe hätten und so weiter, und dass es uns deshalb in der Seele gut tut, immer wieder zu erleben, dass es wenigstens eine Sache gibt, in der wir besser sind als sie, und sei es nur Fußball –, ich glaube nicht, dass das wirklich die Erklärung ist.
Mein Großvater sagte einmal: »Sie jubeln für ihre Mannschaft, obwohl sie immer verliert. Es genügt ihnen schon, dass sie dabei sind. Sie kommen aus unfassbaren Sternentiefen und sind uns fremder als irgendein Lebewesen auf Erden, aber ihre Fröhlichkeit ist ansteckend. Egal wie ein Match läuft, es macht mehr Spaß, wenn man mit einem Haufen Endoraner auf der Tribüne sitzt. Ich behaupte, wir mögen es, sie dabei zu haben, weil sie uns immer daran erinnern, dass Fußball ein Spiel ist und sein Ziel Freude.«
Ich glaube, Großvater hatte recht.
Es riecht wieder nach Zimt in den Straßen. Vor den Hotels hängen jene endoranischen Schriftsymbole, die besagen, dass Zimmer mit Schlafstangen und endoranische Küche verfügbar sind. Man hört es allenthalben zirpen in den U-Bahnen.
Es verspricht, wieder eine wunderbare Fußballweltmeisterschaft zu werden.
© 2003 Andreas Eschbach
Zeit ist Geld
Vielleicht ist es kein Zufall, dass mir die Idee für diesen Text – ich zögere, ihn als Kurzgeschichte zu bezeichnen – ausgerechnet im Herbst des Jahres 1994 kam. Damals lief meine eigene Firma auf Hochtouren, Zeit für Schlaf und dergleichen war knapp, an Schreiben war fast nicht mehr zu denken. Ich erfuhr am eigenen Leib, dass man in der modernen Arbeitswelt entweder viel Zeit, aber kein Geld, oder aber viel Geld, aber keine Zeit hat.
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