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Eine Vielzahl von Sünden

Eine Vielzahl von Sünden

Titel: Eine Vielzahl von Sünden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Ford
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stehen blieb und sie ansah, wandte sie sich um und musterte mich, am Fuß der Treppe, mit einem Ausdruck, den ich im Nachhinein nur als Gleichgültigkeit bezeichnen kann, vielleicht war auch ein Hauch Bedrohtheit dabei. Schließlich war sie alt. Ich hätte plötzlich das Bedürfnis verspüren können, ihr etwas zu tun, und es wäre ein Leichtes gewesen. Aber natürlich dachte ich gar nicht daran. Sie drehte sich wieder zur Tür um und steckte, sichtlich hastig, den Schlüssel ins Schloss. Noch einmal warf sie mir einen Blick zu, als ich hörte, wie der Riegel weit zurückschnellte. Ich sagte nichts, sah sie auch nicht mehr an. Ich wollte nicht, dass sie darauf kam, was mir durch den Kopf ging, und ebenso wenig auf das, was mir nicht durch den Kopf ging. Also setzte ich meinen Weg fort, fühlte mich seltsam, aber keineswegs überraschend betrogen, ging einfach weiter die Straße entlang zu meinem eigenen Zimmer, meinen eigenen Türen, damals, als mein Leben in seinen ersten, langen Zyklus der Not eintrat.

GUTE ZEITEN
    V
on dort, wo er auf der befahrenen Sheridan Road an einer roten Ampel hielt, beobachtete Wales, wie eine Frau im Schnee hinfiel. Plötzlich den Tritt verloren auf dem rutschigen, unebenen Haufen, den die Schneepflüge am Fußgängerüberweg hinterlassen hatten. Wahrscheinlich alt, dachte Wales, obwohl es dunkel war und er ihr Gesicht gar nicht gesehen hatte, nur ihren Sturz – hintenüber. Sie trug einen langen grauen Herrenmantel und Stiefel und eine ins Gesicht gezogene Strickmütze. Oder sie trank, klar, überlegte er und beobachtete sie durch seine salzgesprenkelte Windschutzscheibe, während er weiter wartete. Sie konnte auch jünger sein. Jünger und Trinkerin.
    Wales war unterwegs zum Drake, um die Nacht mit einer Frau namens Jena zu verbringen, einer verheirateten Frau, deren Mann ein enormes Vermögen mit Immobilien gemacht hatte. Jena hatte sich für eine Woche eine Suite im Drake genommen – um dort zu malen. Sie war vierzig. Sie hatte die Erlaubnis ihres Mannes. Sie – sie und Wales – trafen sich jetzt schon fünf Nächte in Folge. Er wünschte sich, es könnte weitergehen.
    Wales hatte vierzehn Jahre lang im Ausland gearbeitet, für verschiedene Auftraggeber geschrieben – in Barcelona, Stockholm, Berlin. Immer auf Englisch. Vor einiger Zeit war ihm aufgegangen, dass er inzwischen zu lange fort war, den Kontakt zum amerikanischen Alltag verloren hatte. Doch dann rief ihn ein jahrelanger Freund an, ein Reporter, den er aus London kannte, und sagte, komm zurück, komm nach Hause, komm nach Chicago, halt ein Seminar darüber, was genau es heißt, James Wales zu sein. Nur zwei Tage die Woche, ein paar Monate lang, dann zurück nach Berlin. »Die Literatur des Eigentlichen«, hatte sein Freund, der Professor geworden war, gesagt und gelacht. Und es war wirklich lustig. So lustig wie Hegel ungefähr. Keiner der Studenten nahm es allzu ernst.
    Die Frau, die hingefallen war – alt, jung, betrunken, nüchtern, er wusste es nicht genau –, hatte sich jetzt wieder aufgerappelt und legte aus irgendeinem Grund eine Hand auf ihren Kopf, als wäre es windig. Vor ihr rauschte der Verkehr die Sheridan Road hoch, beschleunigende Geschwindigkeit hinter Scheinwerfern. Hohe Wohnblocks aus den Sechzigern – eine lange Reihe, alle mit schöner Aussicht – trennten die Straße vom See. Es war Anfang März. Wintrig.
    Die Ampel für Wales’ Spur blieb auf Rot, doch die entgegenkommenden Autos bogen jetzt vor ihm in zügiger Folge auf die Ardmore Street ab. Die Frau, die hingefallen war und sich eine Hand auf den Kopf gelegt hatte, wählte diesen Moment, um die Hauptverkehrsstraße zu betreten. Aus irgendeinem glücklichen Zufall heraus bremste der Fahrer auf der am nächsten gelegenen Spur, der am Bürgersteig, und kam für sie zum Stehen. Allerdings bemerkte die Frau das gar nicht, spürte nicht, dass sie sich mit zwei, vielleicht drei unklugen Schritten in Gefahr gebracht hatte. Wer weiß, was sich in dem Kopf abspielt, dachte Wales und beobachtete sie weiter. Eben gerade hatte sie noch im Schnee gelegen. Und kurz davor war alles in Ordnung gewesen.
    Die Autos bogen weiter eilig in die Ardmore Street ab. Und die Fahrer genau dieser Wagen – auf der mittleren Abbiegespur – konnten die Frau nicht sehen, die unsicher immer weiter auf die Straße hinausging. Obwohl es schien, als sehe sie sie sehr wohl, denn sie streckte dieselbe Hand, die vorher ihren Kopf berührt hatte, mit einer abwehrenden Geste

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