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Eine Vielzahl von Sünden

Eine Vielzahl von Sünden

Titel: Eine Vielzahl von Sünden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Ford
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hängenden Wolken, die Umhüllungen der hohen Gebäude, deren höchste Spitzen verschwunden waren und den Himmel von innen entzündeten. Das eigentliche Zittern, bemerkte er, hatte gar nicht so lange angehalten. Doch was blieb, war einfach eine Art Verwirrung – recht vertraut –, als hätte er diesen Menschen, den er nicht mal kannte, unbedingt für tot erklären müssen, um dadurch etwas klarzustellen, was aber gar nicht gelungen war. Natürlich konnte sein Gefühl auch bloße Vorfreude sein.
    Das Drake wimmelte um sechs Uhr nachmittags nur so von Leuten – selbst in der unteren Arkade bei den teuren Läden und dem Restaurant im nachgemachten Cape-Cod-Stil. Er und Jena hatten dort an ihrem ersten Abend gegessen, begeistert darüber, zusammen zu sein. Wales nahm jeden Abend den Hintereingang und verließ das Gebäude auch jeden Morgen auf diesem Weg. Falls Jenas Mann einen Detektiv engagiert hatte, um ihn zu erwischen, dann würde der Detektiv, beschloss er, den Vordereingang bewachen. Er war nicht besonders gut im Betrügen, das wusste er. Betrügen war sehr amerikanisch.
    Überall in der unteren Lobby waren Männer im Anzug und ihre Frauen in geblümten Kleidern unterwegs, hetzten hierhin und dorthin und trugen Namensschilder mit der Aufschrift DIE GROSSEN ZEHN . Er wollte an alldem vorbei. Doch ein Mann schien ihn zu erkennen, als er sich gerade durch die überfüllte Arkade auf die Fahrstühle zuschlängelte.
    »Hey!«, sagte der Mann. »Wales.« Er pflügte sich durch die Menge, ein massiger, specknackiger, lächelnder Mann in einem glänzenden blauen Anzug. Ein ehemaliger Sportler, natürlich. Auf seinem weißen Plastik-Namensschild stand Jim , darunter Präsident . »Kommen Sie zu unserer Cocktailparty?«
    »Ich weiß nicht. Nein.« Wales lächelte. Überall waren Leute, und sie machten zu viel Lärm. Paare tröpfelten in einen großen hell erleuchteten Bankettsaal mit lauter Klaviermusik und Gelächter.
    Er war diesem Mann schon begegnet, diesem Jim. Aber das war das Einzige, woran er sich erinnerte, ohne sich wirklich daran zu erinnern. Bei einem Uni-Essen möglicherweise. Und jetzt war er wieder da, im Weg. Chicago war groß, aber nicht groß genug. Es war auf eine kleine Weise groß.
    »Ja, also, Sie sind eingeladen«, sagte der Mann Jim jovial und rückte näher.
    »Danke«, sagte Wales. »Gut. Ja.« Sie hatten sich nicht die Hand gegeben. Keiner wollte den anderen allzu lange aufhalten.
    »Ich meine, haben Sie ein besseres Angebot, Wales?«, sagte der Mann namens Jim. Seine Haut war zu weiß, zu dick entlang der kräftigen Kinnlinie.
    »Tja«, sagte Wales. »Ich weiß nicht.« Er hätte fast gesagt, »kommt drauf an«, ließ es aber. Er fühlte sich hier äußerst auffällig.
    »Haben Sie die Tickets bekommen, die ich Ihnen geschickt habe?«, sagte Jim laut.
    »Natürlich.« Er wusste nicht, wovon dieser Jim redete. Aber er sagte: »Hab ich. Danke.«
    »Ja, man kann sich auf mich ebenso verlassen wie auf mein Wort, oder?« Der Mann brüllte gegen den stetig zunehmenden Lärm der Menschenmenge an.
    Wales spähte zu den Fahrstühlen hinüber. Polierte Messingtüren, die sich langsam öffneten, langsam schlossen. Blassgrüne Dreiecke – aufwärts. Blassrote Dreiecke – abwärts. Ein schwacher, verführerischer Gongton. »Danke für die Tickets.« Er wollte dem Mann die Hand schütteln, um ihn loszuwerden.
    »Sagen Sie Franklin einen schönen Gruß«, sagte der Mann, als meinte er das sarkastisch. Wenn er lächelte, sahen seine großen ungewöhnlichen Kinnbacken aus wie bei Mussolini. Franklin, überlegte Wales. Wer war Franklin? Er konnte sich an keinen von der Uni namens Franklin erinnern. Er fühlte sich betrunken, obwohl er nichts getrunken hatte. Noch vor einer Stunde hatte er unterrichtet. Eingesperrt in einen getäfelten Raum voller Studenten.
    Bing … bing … bing. Fahrstühle fuhren los.
    »O ja«, sagte Wales, »mach ich«, und lächelte ein drittes Mal.
    »Also«, sagte Jim, »dann halten Sie die Ohren steif.« Seine Vorderzähne waren allesamt falsch.
    Jim wanderte in die Menge, die jetzt rascher in den Bankettsaal strömte. Genau in diesem Augenblick roch Wales eine Zigarre, voll und dicht und durchdringend. Er musste an die Paris Bar in Berlin denken. Etwas an dem Rauch und diesem Bernstein-Messing-Arkadenlicht war fast so wie dort. Eines Abends war er mal mit einer Freundin hingegangen, auf einen Drink und um Kondome zu kaufen. Beim Gang aufs Herrenklo hatte er festgestellt, dass der

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