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Eine Wohnung mitten in der Stadt (German Edition)

Eine Wohnung mitten in der Stadt (German Edition)

Titel: Eine Wohnung mitten in der Stadt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Niederwieser
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zupfte an einem Taschentuch. „Und vor allem weiß man nicht, wie viel sie von all dem mitkriegt, was um sie herum geschieht. Es soll ja Menschen geben, die sich an die kleinsten Details erinnern, nachdem sie aus dem Koma aufwachen.“
    Edvard nickte. „Auf jeden Fall sollten wir alle positiv denken und ihr Kraft schicken. Sie hat nichts davon, wenn wir heulen“, sagte er, und schon liefen wieder Tränen an seinen Wangen herunter. Mein Mann und seine klugen Sprüche. Er war einfach ein Träumer.
    Meine Schwester Sieglinde kam wenig später. Ihre Augen waren rot wie ihre Wangen, ihre Haltung so aufrecht, daß ihr die Anstrengung, den Kopf gerade zu halten, schon von weitem anzusehen war.
    Sie hatte ihre Tochter im Auto gelassen; Manu war eingeschlafen und wollte partout nicht geweckt werden. Ich war Sieglinde nicht böse darum, denn Manu war ein richtiges Biest. Mit Neun hatte sie mich aus purem Trotz vor meinem Vater geoutet, und wie ich hörte, ist sie seither nur noch schlimmer geworden. Jetzt, mit Vierzehn, schwänzte sie in einer Tour die Schule und zog mit irgendwelchen Kerlen über Land, ließ sich angeblich auch nicht lange bitten, bevor sie ihren Rock lüpfte. Ausgerechnet Sieglinde mußte das passieren. Es tat mir leid für sie.
    Sieglinde blieb kühl und distanziert, als ich ihr alles erklärte, die Sache von dem Hirnschlag und daß es Metastasen des Tumors waren, der ihn verursacht hatte. Sie mühte sich, sachlich zu bleiben, konnte aber nicht verbergen, wie sehr sie das mitnahm.
    „Habt ihr Barbara erreicht?“ fragte sie als nächstes.
    „Sie kann erst heute morgen den Zug nehmen“, antwortete Edvard. „Sie wollte gegen Mittag hier sein.“
    „Und Ludwig?“
    „Bei ihm hat keiner abgenommen. Ich habe völlig vergessen, es noch mal zu probieren.“
    „Schon gut“, sagte Gudrun und legte ihm die Hand aufs Knie.
    „Wir werden wieder mal eine Nachricht in seiner Firma hinterlassen müssen“, sagte Sieglinde und kramte in ihrer Handtasche nach ihrem Adreßbuch.
    „Willst du mein Handy?“ fragte Edvard.
    „Später. Ich denke, zuerst sollten wir reingehen und es hinter uns bringen.“ Sie schaute nicht mal auf, als sie das sagte. Typisch Sieglinde.
    Ich klopfte an die Tür und sagte dem Arzt, daß meine Schwestern eingetroffen waren und gerne unsere Mutter sehen würden. Es dauerte nicht lange, da ließ er sie hinein, nur die beiden; mehr als zwei auf einmal durften nicht zu ihr.
    „Positiv denken“, flüsterte Edvard, bevor sie hinter der Tür verschwanden. Er tat sein Bestes zu lächeln, aber ich nahm es ihm nicht ab. Gudrun zitterte, Sieglinde machte einen steifen Rücken; sie hatten nicht mal eine Ahnung, was sie erwartete.
    Fünf Minuten später kamen sie heraus, wie in Trance oder als hätten sie einen Geist gesehen. Die Begegnung mit der Vergänglichkeit hatte sie um Jahre altern lassen. Edvard, der den Kopf aus seinen Händen hob, sobald er das tiefe Grollen der Stahltür vernahm, erfaßte erschrocken ihre bleichen Gesichter. Sofort liefen ihm Tränen aus den Augen, und das war auch das Startsignal für meine Schwestern.
    „Diese Heulerei bringt doch nichts“, wollte ich sagen. Ich wußte nicht, warum sie nicht einfach die Ruhe bewahren konnten. Tränen machten doch nichts besser, gar nichts. Aber ich schwieg.
    Eigenartig. Dieses Koma, es überkam auch uns. Wir waren vielleicht nicht gefühllos wie meine Mutter. Wir hörten und sahen noch, aber nach und nach wurden wir taub. Wir wurden so taub und träge, daß ich mich zum Aufstehen regelrecht zwingen mußte, als ich auf die Toilette gehen wollte.
    Zehn Uhr fünfzehn. Es war still auf dem Gang zur Intensivstation, nur selten kam hier jemand entlang. Ein junger Mann holte etwa alle halbe Stunde Blutproben ab und brachte rote und gelbe Zettel, wohl die Laborergebnisse. Ab und zu schob jemand eine Wäschetonne vor die Tür oder einen Müllsack, was dann von einem anderen kurz darauf abgeholt wurde. Die Schwestern und Pfleger der Intensivstation trugen Mundschutz, Haarnetze und grüne Uniformen. „Intensivschwestern“ dachte ich bei ihrem Anblick und mußte lachen. Ich weiß nicht, was in mich gefahren war, aber „Intensivschwestern“ klang einfach zu komisch.
    Während ich da saß und wartete, kam ich auf die eigenartigsten Ideen, und jede Nichtigkeit wurde zum Zentrum meiner Aufmerksamkeit, um so mehr noch, wenn sie mich mit Erinnerungen verband.
    Gegen elf fuhren zwei junge Männer einen fahrbaren Blechsarg vor; „Silberpfeil“

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