Eine zweite Chance
ist.«
Anna-Karin tat ein paar Schritte in den Raum hinein und ließ sich auf den erstbesten Stuhl sinken. Margits gekrümmte Finger fischten den Umschlag aus der Handtasche, während Verner mit niedergeschlagenem Blick dastand, scheinbar noch unwillig ihn entgegenzunehmen. »Sie war so jung, Verner, erst vierzehn Jahre.« Margit ließ die Hand sinken, und der Brief blieb auf ihrem Schoß liegen. »Dein Vater war Knecht auf dem Hof, sie waren so verliebt ineinander, musst du wissen, aber als die Eltern begriffen haben, was los war, schickten sie ihn weg. Er kam aus einer Zigeunerfamilie, und von solchen wollten deine Großeltern nichts wissen.« Margit versank in ihren Erinnerungen. »Aber damals wurde es nicht gern gesehen, Mutter eines unehelichen Kindes zu sein. Sie hatte es schwer, deine Mutter, und die Enttäuschung ließ sie an dir aus, armes Kind. Dass du ein wenig … ja, anders warst, machte es noch schlimmer.« Margit sah auf Helgas Brief in ihrem Schoß und schüttelte den Kopf. »Aber du musst wissen, sie hat sich selbst und ihren Eltern niemals vergeben, dass sie dich weggeschickt haben. Je älter sie wurde, desto mehr quälte es sie. Aber Helga fiel es immer schon schwer zuzugeben, dass sie einen Fehler gemacht hatte.« Margit seufzte und sah zu Verner hin. »So war sie, deine Mutter, und als du endlich zurückkamst, wusste sie nicht, wie sie sich verhalten sollte. Natürlich ließ sie dich da oben im Kullmyrstorpet wohnen, aber ich weiß, dass sie eigentlich so viel mehr wollte. Und dann bekam sie eine Gehirnblutung, ehe sie dazu kommen konnte.« Anders ging und holte einen Stuhl für Verner. Dieser nickte zum Dank und setzte sich, vorgebeugt, die Ellenbogen auf den Knien. »Aber eins musst du wissen, Verner, in all diesen Jahren hat sie diese Kastanie, die du gepflanzt hast, gepflegt, als ginge es um Leben und Tod.«
Verner wischte sich mit der Hand über die Nase. Anders schnappte sich eine Serviette vom Buffet und gab sie ihm. Margit streckte ihm den Brief wieder hin, und der Pfarrer stand auf und legte ihn Verner auf den Schoß. Die anderen im Raum saßen still da und versuchten, diese entscheidende Wendung in sich aufzunehmen.
Lasse war der Erste, der zu Wort kam. »Aber dann bist du ja derjenige, der den Hof erbt!«
Verner gab einen schwer zu deutenden Laut von sich. »Nehedudanke, auf dem Hof will ich nie wieder wohnen.« Er schnäuzte sich in die Serviette. »Ich behalte Kullmyrstorpet, jetzt, da die Kastanie weg ist, könnt ihr einfach den Rest durch zwei teilen.«
»Aber der Hof gehört doch dir, Recht muss Recht bleiben.« Lasse beharrte darauf, jetzt, da sich eine Möglichkeit bot. »Ich will ihn auch nicht haben, Lisbeth und ich werden nach Luleå zurückziehen.«
Anders schaute auf Anna-Karin. Ihr Gesicht war zu Boden gerichtet, und mit dem Finger tupfte sie sich die Augen. Er nahm eine neue Serviette von dem schwindenden Stapel und ging zu ihr hin.
Verner stand auf und stopfte den Brief in die Hosentasche. »Und die Kastanie behalte ich auch, sie ist gut, um im nächsten Winter für Wärme zu sorgen. Aber ich muss sie wohl nach und nach in Stücken holen.«
»Ich kann dir mit dem Traktor helfen, sie zu transportieren.« Es war einer der Dorfbewohner, der das anbot. Verner lächelte zum Dank. Dann nahm er das Bild und stellte es zu Anna-Karin. »Bitte sehr, Kusine.«
Mit diesen Worten verließ er den Raum, und als die Eingangstür geschlossen wurde, nahm das Schweigen überhand. Es war allen klar, dass Margits unerwartete Schlussbilanz von Helgas Leben auch das Ende ihres Beerdigungskaffees bedeutete. Anna-Karin war diejenige, die als Erste aufstand. Ohne ein Wort verschwand sie zur Tür hinaus, das Bild blieb dort zurück, wo Verner es abgestellt hatte. Susanna nickte dankend zu Anders hin und folgte ihr. Der Rest zog in einem stillen Trüppchen davon, und Anders stellte sich auf die Veranda und verabschiedete sie. Nachdem alle fort waren, ging er hinein und setzte sich auf die unterste Treppenstufe. Dort blieb er sitzen, bis er Helenas Schritte im Obergeschoss hörte. Sie kam die Treppe herunter und setzte sich an seine Seite, sah ihn an und lächelte.
»Danke dir für die Hilfe. Ist alles gut gegangen?«
Kapitel 25
Wieder war es Abend geworden in der Küche, die einst Helga gehört hatte. Aber an diesem Abend war nichts wie sonst, und das Leben konnte niemals wieder so werden wie zuvor. Anna-Karin saß am Küchentisch und hörte den Seewetterbericht. Eine alte Gewohnheit,
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