Einem Tag in Paris
seine Lippen, und für einen Moment ist sein Lächeln verschwunden, und dann ist es wieder da, als freue er sich, dass sie diesen Wein nur für ihn bestellt hat.
»Champagner!«, sagt sie, als ihr sein Versprechen wieder einfällt, seinen Buchverkauf zu feiern.
Nico winkt dem Kellner, und er kommt an ihren Tisch. Nico bestellt eine Flasche Champagner mit zwei Gläsern. Offenbar wartet keiner der beiden darauf, dass Philippe kommt.
»Erzähl mir von deinem Gedichtband«, sagt Chantal. Sie legt die Finger auf den Umschlag, öffnet ihn aber nicht.
»Noch heute Morgen dachte ich, bei meinen Gedichten ginge es um Scham«, sagt Nico, und obwohl sein Tonfall ernst ist, glüht sein Gesicht – er kann seine Freude nicht verhehlen. »Und jetzt denke ich, das ist falsch. Als Kind habe ich mich einmal einen Tag lang in einem Rübenkeller versteckt. Ich war dort eingeschlafen, und meine Eltern dachten, ich hätte mich verlaufen oder sei entführt worden oder weiß Gott was. Als ich aufwachte und sah, dass Polizisten nach mir suchten, blieb ich dort, wo ich war. Ich hatte zu viel Angst davor, wieder hinaus in die Welt zu treten. Im Laufe der letzten Jahre habe ich unzählige Gedichte geschrieben, die immer wieder neu erfinden, was an diesem Tag hätte passieren können.«
»Und keines von ihnen stimmt?«, fragt Chantal.
»Sie stimmen alle«, sagt Nico. »Sie hätten alle passieren können. Sie passierten alle weiterhin in der Fantasie meiner Eltern, da ich ihnen nie gesagt habe, wo ich gewesen bin. Ich sagte immer, ich könne mich nicht erinnern.«
»Warum?«
»Ah, da haben wir die Scham. Aber da ist noch etwas anderes. Ich wollte ein Geheimnis haben. Ich wollte etwas, das nur mir gehörte, das mir niemand wegnehmen konnte.«
»Und jetzt? Jetzt gibst du dein Geheimnis weg?«
»Ich brauche mein Geheimnis nicht mehr.« Nico lehnt sich auf seinem Stuhl zurück. Er sieht Chantal noch immer an.
»Ich verstehe nicht«, sagt sie.
»Dieser kleine Junge im Rübenkeller ist so einsam«, sagt Nico zu ihr. »Ich will etwas anderes.«
»Was willst du denn?«
»Mach das auf«, sagt er und berührt ihre Finger auf dem Umschlag.
Chantal hört das nächste Lied des kleinen Mädchens, aber diesmal ist der Text auf Französisch. Sie singt über die Sprache der Liebe.
»Hast du die chanteuse gesehen?«, fragt sie Nico.
»Sie ist ein Kind«, nickt Nico. »Aber wenn ich die Augen schließe, ist sie Édith Piaf.«
»Les mots d’amour«, wiederholt Chantal. »Am Ende eines Unterrichtstages habe ich manchmal das Gefühl, als ob es keine Worte mehr gibt.«
»Hast du dich von deinem Amerikaner verabschiedet?«, fragt Nico.
»Ja. Ich glaube, diesmal hat der Schüler der Lehrerin mehr beigebracht als die Lehrerin dem Schüler.«
Die Stimme der Sängerin wird lauter, und die Gespräche an den Tischen des Cafés scheinen alle für einen Moment zu verstummen.
»Er ist ein Teil meines Herzens«, singt das Mädchen.
»Was hast du gelernt?«, fragt Nico.
»Oh, ich habe gelernt, dass es eine Art Liebe gibt, die sich so anfühlen muss, als ob man nach Hause kommt«, lächelt Chantal. »Jetzt kann ich mir zumindest vorstellen, was ich gern hätte.«
Sein Blick ruht jetzt auf ihr, daher sieht sie auf den Umschlag. Er ist nicht verschlossen. Sie öffnet die Lasche und entnimmt ihm zwei Tickets. Sie braucht ein paar Sekunden, bis sie begreift, was sie zu bedeuten haben – Theaterkarten? Flugtickets? Nein, es sind Zugfahrkarten nach Avignon. Sie runzelt die Stirn, aber er sagt kein Wort. Sie betrachtet die Tickets genauer.
Der Zug fährt um neun Uhr abends am Gare de Lyon ab.
»Sag Ja«, sagt Nico zu ihr.
Sie sieht ihn nur an.
»Kann ich meinen Wein wiederhaben?«
Er nimmt noch einen Schluck und reicht ihn ihr. Wieder berühren sich ihre Finger.
»Ich dachte, ich hätte mich in die Amerikanerin verliebt, wirklich«, holt Nico zu einem überstürzten Wortschwall aus. »Sie war tragisch und schön, und ich dachte, ich würde sie retten. Ich habe sie in die Provence eingeladen.«
Warum erzählst du mir das?, denkt Chantal, aber sie sagt kein Wort.
»Sie sagte, sie würde mich am Bahnhof treffen. Ich kam früh dorthin, und während ich in dem Gedränge nach ihr Ausschau hielt, stellte ich mir immer wieder deine Augen vor und wie sie mich heute Morgen ansahen, ich stellte mir vor, wie dein Haar aus deinem Haarknoten fällt, wie sich dein anmutiger Körper durch die Menge bewegt und auf einmal vor mir steht, bereit, mit mir in die Provence
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