Einem Tag mit dir
selbst noch gar nicht glauben, dass das alles Wirklichkeit ist.
Ich werde Ihnen mein Leben lang dankbar sein.
Herzlichst
Ihre Genevieve
Stille lag über dem Campus, und meine Absätze klapperten auf dem gepflasterten Weg, der noch nass war vom Regen. Irgendwo schlug eine Uhr: Es war zwölf Uhr Mittag.
»Wir sind bald da«, sagte Jennifer besorgt.
»Es geht schon, Liebes«, versicherte ich ihr. Die kühle Herbstluft fühlte sich gut an auf meiner Haut. Sie verlieh mir ungeahnte Energie.
Wir gingen an ein paar Ahornbäumen vorbei, deren Laub orange und rot leuchtete. Dahinter erhob sich ein eindrucksvolles Backsteingebäude. Ich erkannte es sofort. In dem Gebäude hatte Gerard Finanzwirtschaft unterrichtet, nachdem er sich aus dem Bankgeschäft zurückgezogen hatte. Wie sehr ich es genossen hatte, mit ihm über den Campus zu spazieren, vor allem im Herbst.
»Hier entlang«, sagte Jennifer und nahm meinen Arm, als wir in einen schmalen Weg einbogen, der um das Gebäude herumführte. Sie hielt einen Zweig hoch, um mich vorbeizulassen. Ich war so oft mit Gerard auf dem Cam pus gewesen, aber ich war nie auf die Idee gekommen, hinter dem Gebäude entlangzugehen.
»Da steht sie«, verkündete sie stolz.
Ich kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Ich verstand sofort, was Jennifer an der Skulptur so faszinierte. Sie erzählte eine ganze Geschichte. Ich ging näher und betrachtete das Paar, das sich in einem Türrahmen aneinanderschmiegte. Warum begann mein Herz zu klopfen bei dem Anblick? Der Mann schaute die Frau sehnsüchtig an, während ihr Blick in die Ferne gerichtet war.
»Was für eine schöne Skulptur«, sagte ich. Der Mann hielt eine große, mit einem Schloss versehene Schatulle in der Hand, und zu seinen Füßen lagen ein paar Gegenstände auf dem Boden: eine Leinwand, eine zerbrochene Flasche, ein Buch. Meine Hände zitterten, als ich mich bückte. In dem Augenblick begriff ich.
Jennifer stand schweigend ein paar Schritte hinter mir. Wo waren all die Leute, die Festgäste, von denen sie gesprochen hatte? Ich fuhr mit der Hand über das Buch aus Bronze, das kalt und regennass war. Dann berührten meine Finger die Ecke des Deckels. Konnte es sein? Ich hob den schweren Deckel an. Mir blieb fast das Herz stehen, als ich den rostigen Schlüssel sah, der in dem Hohlraum darunter lag.
Ich winkte Jennifer zu mir. »Ich schaffe das nicht allein«, sagte ich und wischte mir eine Träne von der Wange.
Sie stützte mich, als ich den Schlüssel in das Schloss an der Schatulle steckte, deren Ränder dicht versiegelt waren, um den Inhalt zu schützen. Der Schlüssel passte. Ich versuchte ihn umzudrehen, doch es gelang mir nicht.
»Der Mechanismus scheint verrostet zu sein«, sagte ich. »Ich versuche es noch einmal.«
Ich zog den Schlüssel heraus, steckte ihn ein zweites Mal ins Schlüsselloch und rüttelte ein bisschen daran. Ein leises Klicken ertönte, dann sprang das Schloss auf.
Jennifer sah zu, als ich den Deckel der Schatulle anhob. Eine mit blauem Samt bezogene kleinere Schachtel befand sich darin. Ich nahm sie heraus, dann gingen wir zu einer Bank in der Nähe und setzten uns.
»Machst du sie auf?«, flüsterte Jennifer.
Ich sah sie mit feuchten Augen an. »Du hast es gewusst, nicht wahr?«
Sie nickte lächelnd. »Als die Frau aus dem Archiv mich auf Bora-Bora angerufen hat, hat sie mir den Namen des Künstlers genannt: Grayson Hodge. Aber ich bin nicht gleich darauf gekommen. Erst ein paar Wochen später, als wir schon wieder zu Hause waren, ist der Groschen gefallen.« Sie schaute mir in die Augen. »Es ist sein Künstlername. Ich wollte es dir nicht vorenthalten, aber ich wollte, dass du es selbst siehst.«
Vorsichtig öffnete ich die kleine Schachtel und schlug das braune Seidenpapier zurück.
Jennifer schnappte nach Luft. »Das Gemälde? Das Bild aus der Hütte?«
Ich nickte ergriffen. Der alte Gauguin wärmte mir die Hände, als enthielte das Bild die Sonne von Bora-Bora. Die Farben waren noch genauso leuchtend wie damals, die Szene so rührend wie an dem Tag, als ich sie zum ersten Mal gesehen hatte. Einen Moment lang war ich wieder auf der Insel, spürte die Sonne auf der Haut, den Sand unter den Füßen und Westrys Liebe, die mich einhüllte.
»Er hat es geholt!«, sagte ich. »Wie er es versprochen hatte.« Natürlich hatte er sein Versprechen gehalten. »Unglaublich, dass es die ganze Zeit hier war, direkt vor meiner Nase! Und ich hab nichts davon bemerkt! Dan ke,
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