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Einen solchen Himmel im Kopf: Roman (German Edition)

Einen solchen Himmel im Kopf: Roman (German Edition)

Titel: Einen solchen Himmel im Kopf: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi , Stephanie Gleißner
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standen am zweigleisigen Bahnhof von Kalin. Es war März, sieben Uhr morgens, unerwarteter Temperatursturz und Schneeeinbruch. Im Hinterland hatten schon Schlüsselblumen geblüht, die Forsythien trieben bereits. »Vor den Eisheiligen muss man bei uns mit allem rechnen«, hatten die Alten auf den Bänken wieder einmal recht. Der Bahnhof von Kalin war kein richtiger Bahnhof. Es gab keine Wartehalle, auch keinen Schalter, nicht einmal einen Ticketautomaten gab es, nur ein pittoreskes, holzvertäfeltes Bahnwärterhäuschen, vor dem standen wir jetzt, die einzigen Passagiere, übernächtigt, in halboffenen Absatzschuhen und tollkühnen Frühlingsjacken. Der hutzelige Bahnwärter trat vor die Tür und klopfte sich mit einer gerollten Super-Illu auf den Oberschenkel, dabei musterte er uns undsagte dann: »Dauert noch ein bisschen, bis der Bus kommt.« Wir waren froh, dass er uns nicht anbot, bei ihm im Häuschen zu warten. Es war zu gefährlich. Schon in Kalin war es möglich, dass sie fragten, wem man gehöre, und wenn sie das fragten, dann wussten sie meist schon, aus welcher Brut man stammt, dann wollten sie ihre Ahnung nur noch bestätigt haben. Schon in Kalin konnten sie Gesichter lesen.
    Ich klapperte mit den Zähnen, das war so eine Eigenart, das ging immer schnell bei mir, Johanna hatte das nicht. Sie stand wie festgefroren, in der Mitte leicht gekrümmt. Es hatte wieder zu schneien begonnen, langsam, ruhig und friedlich. Das Geräusch meiner aufeinanderschlagenden Zähne störte. Ich fand es selbst unangemessen, es war kalt, sicher, aber nicht so sehr, das mit den Zähnen wäre nicht nötig gewesen. Ich entschloss mich, eine Zigarette zu rauchen, vielleicht hörte es dann auf. Als ich das Feuerzeug aus der Packung zog, entglitt es mir und fiel in den Schnee. Ich versuchte es aufzuheben, doch meine Finger waren so steif vor Kälte, dass es mir immer wieder entglitt.
    »Scheiße, ich hab kein Gefühl in den Fingern.«
    Johanna trat vor mich hin. Sie zog den Reißverschluss ihrer Jacke halb herunter. Sie nahm meine Hände und führte sie unter ihr Sweatshirt. Sie legte sie in ihre Achselhöhlen und zog mich dicht an sich heran, sie presste ein Bein zwischen meine Beine und drückte mit dem anderen von außen dagegen.Wir standen ineinander verkeilt, ich wankte, sie hielt mich. Ihre Hand war schnell wie eine Eidechse unter meinen Pulli gefahren, und dann, als ich zu wanken begann, glitt sie über meinen Rücken, der Arm, der ihr folgte, schob sich über meine Hüften wie ein Riegel. Sie hielt mich.
    »Besser jetzt?«, flüsterte sie mir ins Ohr.
    Ihre Haare kitzelten mein Gesicht, sie bemerkte es, legte den Kopf auf meine Schulter, ihre Nase und ihr Mund an meinem Hals. Sie war jetzt überall, sie achtete nicht auf die Schuppenhaut, Hände und Mund waren so schnell, ich wurde ihrer nicht mehr Herr, wusste nicht mehr, was ihr Körper war und was meiner, wo es anfing und aufhörte, wann ich mich spürte und wann sie. Endlich fuhr das Aufblinken des Fernlichts zwischen uns. Beim Einsteigen schaute uns der Busfahrer nicht an. Er schaute an uns vorbei, doch er beobachtete uns im Rückspiegel. Wir krümmten uns jede auf einem Zweiersitz zusammen, schliefen augenblicklich ein, doch an den Rändern brannten wir.

19.
    Auch Frau Luger war ganz offensichtlich nicht auf Neuschnee eingestellt. Selbst ein zager Hinterlandfrühling vertrug sich nicht mit filigranen Lederriemchen und schimmerndem Nylon. Keine der im Hinterlandvertretenen Witterungen und Jahreszeiten vertrug sich damit. Doch Frau Luger stellte sich nicht auf das Hinterland und seine Verhältnisse ein, sondern auf den Vorwerkvertreter. Mit Blicken suchte Johanna die Straße nach geparkten Autos ab, hinter denen wir uns verstecken konnten. Doch natürlich: Sonntagmorgen im Hinterland, die Autos stehen in Garagen. Frau Luger hatte uns schon erblickt und winkte. Die Treppe war nicht geräumt, sie stakste durch den Tiefschnee, während das Schneeschaufelgeklapper bettflüchtiger Ehemänner durch die Nachbarschaft höhnte. Sie war bestens gelaunt.
    »Na, alle Zeitungen verteilt?«, fragte sie.
    »Sicher«, antwortete Johanna.
    »Jetzt wollt ich grade zum Bäcker und Semmeln holen«, trällerte Frau Luger weiter, »und dann ist mir eingefallen, dass ja Sonntag ist.«
    »Oh, wie ärgerlich! Noch dazu, wo du dich extra so hergerichtet hast«, erwiderte Johanna, drückte sich an ihr vorbei und ließ sie wie einen lästigen Passanten hinter sich.
    Schweigend hackte sie Holz, ich

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