Einen solchen Himmel im Kopf: Roman (German Edition)
offensichtlicher, nicht zu bestreitender Mängel in der Beschaffenheit einzelner Körperteile. Vielleicht spürtensie, dass da eine war, die nicht mitmachte bei diesem Jungsein, die das alles schon hinter sich gelassen hatte oder sich gar nicht erst darauf einließ, eine, die außerhalb stand, die an diesen Samstagnächten tatsächlich nur Musik und Tanzen wollte, eine, von der Befreiung zu erhoffen vielleicht nicht vergebens war.
Kurzzeitig schien es so, als verlöre Johanna die Heiligen aus den Augen. Die Vor- und Nachbereitung der einen Samstagnacht im Monat nahmen sie völlig in Beschlag. Sie abonnierte drei Musikzeitschriften, kaufte sich zum Geburtstag eine Hi-Fi-Anlage, und mindestens einmal die Woche marschierten wir in die neueröffnete Müller-Markt-Filiale. Die Verkäuferin freute sich nicht, wenn wir die Treppe zu ihr hinunterstiegen. Selbst die einheimischen Hauptschüler, die mittags auf dem Weg nach Hause einen Abstecher zu ihr machten, die CD-Station belagerten, »Mach die mal an«, »Mach die mal aus«, forderten und sie nach einer halben Stunde in einem CD-Hüllen-Chaos, das sie den Rest des Nachmittags beschäftigte, zurückließen – natürlich ohne jemals etwas zu kaufen –, waren ihr lieber als Johanna und ihre Listen. Denn die CDs auf Johannas Listen mussten immer bestellt werden, und der Bestellvorgang erforderte Einsatz und Hörverständnis der englischen Sprache, und mit der tat sich die Verkäuferin schwer. Johanna bemühte sich um eine deutliche und akzentuierte Aussprache. Sie nannte zuerst denNamen der Band oder des Interpreten, dann den Albumtitel. Die Verkäuferin aber wusste nicht, wie das Gehörte in Buchstaben zu übersetzen war. Sie wollte es sich nicht anmerken lassen, sie versuchte es, tippte Kombinationen in den Computer, die keine Treffer erzielten. Schließlich bat sie Johanna, die Wörter zu buchstabieren. Und weil es ein Dutzend Titel waren, die Johanna zum Probehören bestellte, standen wir oft eine ganze Stunde in der Filiale und quälten die Verkäuferin. Als ich Johanna vorschlug, ihr doch einfach die Liste zu geben, damit die überforderte Frau die Titel abtippen konnte, weigerte sie sich. Wenn sie kein Englisch könne, obwohl das doch zu ihrem Job gehöre, dann müsse sie das eben lernen, meinte Johanna. Es war ein nicht von der Hand zu weisendes Zeichen für Bosheit. »Außerdem«, rechtfertigte sie sich, »wenn der Nächste kommt und den Titel bestellen will, kann sie’s dann schon aussprechen.« Natürlich wusste auch Johanna, dass im Hinterland kein Nächster nach diesen Titeln fragen würde.
Als unsere Ersparnisse aufgebraucht waren, trugen wir wieder Zeitungen aus. Für den neuen Bezirk interessierten wir uns nicht. Die Menschen an den Fenstern um vier Uhr morgens hatten wir vergessen, Rituale gaben wir auf, wir brauchten sie nicht mehr, wir hatten jetzt ein Ziel. Wir arbeiteten konzentriert, schnell und freudlos, arbeiteten für Zugfahrten, Wodka, Bier, CDs und Zeitschriften. Die Eltern warenskeptisch, sie befürchteten schulischen Leistungsabfall. Wir sagten: »Lasst es uns versuchen. Wir werden sehen.« Es war leicht, die Eltern zu überzeugen. Sie waren so mit sich beschäftigt. Manchmal schreckten sie hoch wie aus dem Schlaf, sie sahen dann, dass es seltsam war: wir in aller Herrgottsfrüh schon unterwegs. Als ob sie von uns nicht alles bekommen würden, dachten sie dann. Aber man musste sie nur etwas tätscheln – lasst es uns versuchen, wir werden sehen –, und sie schliefen wieder ein in den kleinen Zimmern mit den Heiligenbildern. Die Alten auf den Bänken hingegen beschäftigten sich schon lange nicht mehr mit sich selbst, sie kümmerten sich ausschließlich um andrer Leute Angelegenheiten. Es herrschte da eine Schieflage. Für was wir denn das ganze Geld brauchten, wollten sie wissen. Johanna, die die Alten bislang immer ignoriert hatte, sagte, dass es an der Zeit sei, ihr Blockwartgebaren abzulegen. Das verschlug den Alten dann doch die Sprache. So etwas war ihnen noch nicht untergekommen. Später, als sie die Worte wiederfanden, erzählten sie auch denen, die es nicht wissen wollten, dass die kleine Luger nun völlig übergeschnappt sei, dass das ja alles schön und recht sei, man ließe sich ja was gefallen, aber das ginge nun doch zu weit, die werde sich noch umschauen, die kleine Luger. Nur Karl Rieder empörte sich nicht. Er hatte vom Anzeigenkasten weg- und zu Johanna hingeschaut. Er war ganz gegenwärtig gewesen, hattegelächelt, ein
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