Eines Abends in Paris
Jahren komme ich wieder nach Paris zurück und meine Schwester hat sich gerade in einen Mann verliebt, der mir auch gefallen könnte.« Sie lächelte wehmütig. Dann fasste sie nach meiner Hand. »Glaub mir, Alain, ich hatte keine Ahnung. Und wenn überhaupt, dann war es nur der Hauch einer Ahnung. Ich wollte dich gewiss nicht an der Nase herumführen. Erst als du mir von den beiden Buchstaben erzählt hast und davon, dass sie sich immer in diese Reihe setzte, wenn sie ins Cinéma Paradis kam, war mir klar, dass es Mélanie ist. Das musst du mir einfach glauben.«
Ihre Stimme klang bedrückt.
»Ist ja gut, Solène«, sagte ich. »Natürlich glaube ich dir. Es ist einfach Pech, dass sich eure Wege im Cinéma Paradis gekreuzt haben. Zum zweiten Mal. Aber zumindest macht das Ganze jetzt einen Sinn für mich.«
Lange Zeit saßen wir schweigend da. Ich lehnte mich im Sessel zurück und mein Blick verfing sich in den Schnörkeln der goldenen Standuhr auf dem Kaminsims. Es war zehn nach vier, ich war unglaublich müde und doch auch überhaupt nicht müde, und während ich mich in einer seltsamen Lethargie einrichtete, wie man sie wohl empfindet, wenn der sogenannte »tote Punkt« überwunden ist, ließ ich die ganze Geschichte mit all ihren merkwürdigen Wendungen, mit all ihren Zufällen, von denen am Ende doch nicht alle Zufälle waren, noch einmal an mir vorüberziehen.
An der Frage, was Schicksal und was Zufall ist, haben sich schon klügere Menschen als ich versucht. War es Zufall oder Schicksal, dass mich der Anblick einer aparten jungen Frau in einem roten Mantel dermaßen ins Herz traf, dass ich mich in sie verliebte? War es Schicksal oder Zufall, dass ihre Schwester einen Tag später vor dem Cinéma Paradis stand?
Dass ich mit Solène einen Spaziergang um die Place Vendôme machte und sie gerührt in die Arme schloss, als sie mir vom Tod der Eltern erzählte, war sicherlich kein Zufall gewesen, aber dennoch schicksalhaft, denn auf diese Weise hatte es ein verfängliches Paparazzi-Photo in einer Zeitung gegeben, die zufällig einer vom Schicksal Geschlagenen in die Hände gefallen sein musste. Einer verliebten Frau, die weit weg von Paris in einem kleinen Ort namens Le Pouldu bei ihrer Tante saß und nun überzeugt war, dass sich der schlimmste Augenblick ihres Lebens wiederholte.
Das hingegen, was ich zunächst für einen Zufall gehalten hatte, für den rein zeitlichen und von daher bedeutungslosen Zusammenfall zweier Ereignisse, war keiner gewesen.
Solène Avril war nach Paris gekommen und Mélanie war nicht zu unserer Verabredung erschienen. Ich sah keinen Zusammenhang. Doch Mélanie hatte sich bewusst zurückgezogen, und dafür kannte ich nun den Grund.
Ich wusste nicht, ob es Zufall oder Schicksal war, dass Mélanie gerade in jenem Augenblick auf der Dachterrasse des Georges stand, als Solène mich umarmte, auf jeden Fall war ihr diese unschuldige und doch nicht ganz absichtslose Umarmung der erneute Beweis, dass wieder einmal ein Mann, den sie liebte, den Reizen ihrer Schwester erlegen war. Aufgebracht und maßlos enttäuscht war sie davongerannt und hatte mir ein rätselhaftes und – wie mir jetzt klar wurde – resignatives Lächeln geschenkt, als sie in einer spontanen Geste ihre Hand gegen das Fenster der Métro legte.
Solène war die Erste, die die Sprache wiederfand.
»Wir müssen sie finden, Alain«, sagte sie. »Noch ist nichts verloren. Wir müssen Mélanie finden und ihr alles erklären.«
Ich nickte langsam. Erst allmählich begriff mein von eindrücklichen Bildern überwältigter Verstand, dass es nun wieder Hoffnung gab, dass die Chancen, zum Ziel meiner Wünsche zu gelangen, noch niemals so gut gestanden hatten.
»Auf jeden Fall habe ich jetzt endlich einen Namen – das wird die Sache erheblich vereinfachen.« Lächelnd musste ich daran denken, wie ich in der Rue de Bourgogne den Detektiv gespielt hatte. Jetzt, da es außer Frage stand, dass Mélanie einen anderen Mann hatte, kam es mir umso merkwürdiger vor, dass sie in dem Haus mit dem Kastanienbaum verschwunden war. Der Name Avril hatte jedenfalls auf keinem der Türschilder gestanden.
»Mélanie Avril«, sagte ich probeweise. »Das klingt so wunderbar leicht. Es lässt einen an einen Frühlingstag in Paris denken. Der Regen hüpft auf dem Pflaster, dann reißt der Himmel wieder auf, die Sonne spiegelt sich in den Pfützen und die Menschen haben gute Laune …«
»Ach, Alain, du bist wirklich unverbesserlich. Mélanie heißt
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