Eines Abends in Paris
gar nicht Avril. Sie heißt Fontaine. Genau wie ich. Solène Avril ist mein Künstlername.«
»Ach«, sagte ich verblüfft. Und setzte dann ein nicht sehr eloquentes »Ach so!« hinzu. Eigentlich hätte ich mir denken können, dass »Avril« ein Kunstname war. Viele Schauspieler legen sich einen klingenden Namen zu, das weiß man ja.
Solène lächelte. »Tja, mein Lieber. So ist das im Filmbusiness. Ich heiße nicht mal Solène … alles erfunden.«
»Und wie heißt du wirklich?«
»Marie. Aber das war mir viel zu unspektakulär. Und die Marie aus der kleinen Parterrewohnung in Saint-Germain gab es schon damals nicht mehr. Und da habe ich mich eben neu erfunden.« Sie grinste. »Ich hoffe, ich habe jetzt nicht alle deine Illusionen zerstört.«
»Aber nein.« Ich winkte ab. »Fontaine ist doch auch ein sehr schöner Nachname.«
Und ich meinte es, wie ich es sagte. Mir gefiel der Name wirklich. Dass einzige Problem, das ich mit dem neuen Nachnamen hatte, war, dass Hunderte von Parisern so hießen. Fontaine war einer der häufigsten französischen Nachnamen, auch wenn im Haus in der Rue de Bourgogne leider niemand so geheißen hatte. Selbst mein findiger Freund Robert hätte schon sämtliche Studentinnen seiner Fakultät bemühen müssen, um Paris telefonisch durchzukämmen.
Falls Mélanie Fontaine überhaupt in einem Telefonbuch zu finden war. Vielleicht besaß sie wie viele Leute heute nur noch ein Mobiltelefon. Obwohl ich sie mir eher am Hörer eines alten schwarzen Bakelit-Telefons vorstellen konnte als an einem Smartphone. Die Suche nach einer Mélanie Fontaine würde nicht gerade ein Spaziergang werden.
Solène schien meine Gedanken erraten zu haben.
»Mach dir keine Sorgen, Alain«, sagte sie. »Notfalls muss ich es über meine Tante versuchen. Mélanie war, wie du sagst, ja vor kurzem noch da. Tante Lucie wird ihre Adresse sicherlich haben.« Sie zog die Stirn kraus. »Allerdings hat Tante Lucie nach dem Tod meines Onkels noch ein zweites Mal geheiratet. Ich hoffe, der Name fällt mir wieder ein.« Sie seufzte in komischer Verzweiflung. »Keine Angst – irgendwie bekomme ich das schon raus. Und wenn ich mich selbst in den Zug setze und nach Le Pouldu fahre. Das sollte ich vielleicht sowieso mal machen. So groß ist meine Familie ja nicht.«
Solène, die eigentlich Marie hieß, war ganz beseelt von dem Gedanken, Mélanie ausfindig zu machen. »Du wirst schon sehen, ich finde sie«, wiederholte sie immer wieder.
»Danke, Solène.« Für mich würde sie immer Solène bleiben.
Als ich mich in den frühen Morgenstunden von ihr verabschiedete, umarmte sie mich ganz fest. »Es hat gut getan, darüber zu sprechen. Nach all den Jahren.« Sie sah mir geradewegs in die Augen. »Weißt du, Alain, ich glaube, es war doch kein dummer Zufall, dass wir uns begegnet sind«, sagte sie dann. »Ich bin nach Paris gekommen, um diesen Film zu drehen. Aber eigentlich kam ich her, weil ich Heimweh hatte. Ich habe so oft an früher gedacht und an meine Schwester, als ich in den alten vertrauten Straßen und Gässchen Saint-Germains herumgelaufen bin, und ich habe mich gefragt, was sie wohl macht. Ich bin an unserem alten Haus vorbeigegangen und habe nach den Namen im Erdgeschoss geschaut. Ich war am Grab meiner Eltern und habe ihnen gesagt, wie sehr ich sie vermisse. Wie sehr ich Mélanie vermisse. Und nun habe ich endlich die Chance, alles wiedergutzumachen, was ich damals angerichtet habe. Diesmal werde ich nichts zerstören.« Sie schüttelte entschlossen den Kopf. »Diesmal werde ich dafür sorgen, dass meine Schwester den Mann bekommt, den sie liebt. Und der sie liebt«, setzte sie hinzu.
Ich sah sie gerührt an.
»Und nun mach, dass du wegkommst.« Sie gab mir einen kleinen Kuss auf den Mund. »Aber in meinem nächsten Leben kann ich für nichts garantieren.«
»In deinem nächsten Leben hast du sicher einen Bruder.«
»Genau«, sagte sie und ihre Augen funkelten. »Einen wie dich.«
Am Ende des langen Hotelflurs drehte ich mich noch einmal um.
Solène stand immer noch da und sah mir nach. Sie lächelte und das Licht der Deckenstrahler verfing sich in ihrem blonden Haar und ließ es aufleuchten.
Wenige Augenblicke später trat ich hinaus auf die Place Vendôme. Paris erwachte.
29
Alles, worauf die Liebe wartet, ist die Gelegenheit, hat Cervantes einmal gesagt. Alles, worauf ich wartete, war die Gelegenheit, die Frau, die ich liebte, endlich in die Arme zu schließen, und ich war nicht besonders gut darin. Im
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