Eines Abends in Paris
mich an, ich hätte ihr erst den Mann weggenommen und jetzt auch noch die Eltern. Und ich solle endlich verschwinden, weil ich nur immer alles zerstören würde.«
»Oh, mein Gott, aber das ist ja völlig absurd!«, rief ich bestürzt. »Das war doch nicht deine Schuld.«
Solène wischte sich eine Träne von der Wange und sah mich mit verletztem Blick an. »Dabei wollte ich meinen Eltern doch nur einen Herzenswunsch erfüllen.«
»Du musst dir keine Vorwürfe machen, Solène«, versicherte ich. »Jedenfalls nicht, was deine Eltern angeht. Meine Güte, das war einfach ein ganz tragischer Unglücksfall. Keiner kann etwas dafür.«
Solène nickte und zog ein Taschentuch hervor.
»Das hat Tante Lucie auch gesagt. Sie rief mich an und sagte, Mélanie habe einen Nervenzusammenbruch gehabt. Und dass sie es gewiss nicht so gemeint habe. Später hörte ich, dass Mélanie in die Nähe von Le Pouldu gezogen sei, wo unsere Tante lebte. Sie hat es in Paris offenbar nicht mehr ausgehalten. Sie hatte ja noch bei meinen Eltern gewohnt, als der Unfall passierte.«
»Und dann?«
Solène hob hilflos die Schultern. »Nichts. Ich habe nie mehr etwas von Mélanie gehört. Ich habe versucht, ihren Wunsch zu respektieren. Aber ich habe nicht aufgehört, sie zu vermissen.«
28
Solène kam zu mir herüber und ließ sich erschöpft in ihren Sessel fallen. Man konnte sehen, wie aufgewühlt sie war.
»Die Sache mit Victor ist ein unrühmliches Kapitel in meinem Leben, ich spreche nicht sehr gern darüber«, sagte sie und vergrub ihr Gesicht für einen Moment in den Händen. Dann schaute sie wieder auf. »Ich wünschte, ich könnte es ungeschehen machen, aber das ist leider nicht möglich. Wie oft habe ich den Tag verflucht, als ich mich mit Victor eingelassen habe. Dabei hätte ich nur Nein sagen müssen. Es wäre so einfach gewesen.« Sie setzte sich auf und faltete ihre Hände. »Glaub mir, Alain, wenn ich die Uhr zurückdrehen könnte, würde ich alles anders machen.«
»Was ist denn überhaupt aus Victor geworden?«, fragte ich.
»Ich weiß es nicht. Kurze Zeit nachdem wir in San Francisco angekommen waren, habe ich ihn aus den Augen verloren. Und dann bin ich selbst weitergezogen.« Sie strich mit den Fingern über die Lehne des Sessels. »Für mich war es ja nicht so eine große Sache, ich fühlte mich einfach zu ihm hingezogen.«
»So wie zu mir?«, fragte ich.
Ein zarter Rosaton zog sich über Solènes Gesicht.
»Ja … vielleicht. Ich mag dich eben, du warst mir gleich sympathisch, was soll ich machen?« Sie zwinkerte mir zu aus ihren verweinten Augen und versuchte die Schwere aufzuheben, die sich über das Zimmer gelegt hatte, wie ein Rabenflügel. »Das müsstest du eigentlich gemerkt haben. Aber diesmal habe ich wohl keine Chance.«
Sie lächelte und ich lächelte auch. Dann wurde ich ernst.
»Ich mag dich auch Solène, sehr sogar. Das habe ich dir erst gestern noch gesagt auf der Dachterrasse. Da war dieser wunderbare Moment, den ich ebenso wenig vergessen werde wie du.«
»Und genau dieser Moment ist dir vielleicht zum Verhängnis geworden.«
Ich nickte und rieb mir mit der Hand über die Stirn.
»Mélanie liebt mich und ich liebe sie«, entgegnete ich unglücklich. »Ich liebe sie wirklich über alles. Und die Vorstellung, dass sie glaubt, die schlimmste Erfahrung ihres Lebens hätte sich wiederholt, zerreißt mir das Herz.« Ich sah Solène an. »Warum hast du mir nicht schon eher gesagt, dass sie deine Schwester ist?«
Solène blickte mich ratlos an. »Ich bin überhaupt nicht auf die Idee gekommen, Alain. Wie sollte ich auch? Du hast mir damals auf der Place Vendôme gesagt, du hättest dich in eine Frau verliebt, aber du hast keinen Namen genannt. Dann kamen diese Paparazzi und die ganzen Zeitungsberichte und die Frau im roten Mantel verschwand. Aber davon wusste ich ja zunächst gar nichts, und selbst du hast zunächst keinen Zusammenhang gesehen zwischen unserem Auftauchen und Mélanies Verschwinden. Später sagte Allan mir dann, dass ihr seine Tochter Méla sucht – da habe ich den Namen Mélanie zum ersten Mal gehört. Und ja, ich gebe zu, als Méla dann die falsche Mélanie war, sind mir für einen kurzen Augenblick Zweifel gekommen. Aber das Letzte, was ich von meiner Schwester gehört hatte, war doch, dass sie in der Bretagne lebt. Wie hätte ich da annehmen sollen, meine Schwester sei deine Mélanie? Es schien mir völlig unwahrscheinlich. Ich meine, was für ein idiotischer Zufall! Nach zehn
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