Eines Abends in Paris
kleiner Mond und verstummte allmählich.«
»Oh, mein Gott«, sagte ich. Ich ahnte, was als Nächstes kommen würde. Sie ist wie eine Sonne, hatte Allan Wood über Solène gesagt, jeder möchte in ihrer Nähe sein.
»Nach kurzer Zeit hatte Victor nur noch Augen für mich. So bezaubert er auch von Mélanie gewesen war, nun war er hingerissen von ihrer Schwester, die von ihrer ganzen Art und auch vom Alter her viel besser zu ihm zu passen schien. Er lauerte mir auf dem Weg zum Boulevard Raspail auf, er passte mich heimlich ab, er küsste mich hinter dem Rücken meiner Schwester. ›Komm, nur einen Kuss‹, sagte er jedes Mal, wenn ich ihn lachend abwehrte. ›Es sieht doch keiner. Und du hast so einen schönen Mund, da kann man gar nicht anders‹. Und später sagte er dann: ›Komm mit mir nach Kalifornien, dort scheint das ganze Jahr über die Sonne und wir werden ein herrliches Leben haben.‹ Er sah sehr gut aus und hatte diese wunderbare Leichtigkeit, die mir immer besser gefiel. Irgendwann wehrte ich mich nicht mehr.« Solène seufzte und schaute in ihr Glas.
»Vielleicht hätte es in meiner Macht gestanden, dem Ganzen einen Riegel vorzuschieben, aber damals besaß ich noch nicht die nötige Einsicht. Schließlich, so sagte ich mir, konnte ich ja nichts dafür, wenn sich ein Mann in mich verliebte, auch wenn es der Mann meiner Schwester war. Wer weiß, ob Victor bei Mélanie geblieben wäre, wenn ich anders reagiert hätte. Aber ich war jung und rücksichtslos, und die Aussicht, mit Victor nach Amerika gehen zu können, ließ mich alle Bedenken in den Wind schlagen.«
Sie sah mich an und hob die Hände in einer entschuldigenden Geste. »Meine Güte, wer bleibt denn schon bei seiner ersten Liebe?!« Sie schüttelte den Kopf. »Ich hatte einfach nicht begriffen, wie ernst das alles für Mélanie war. Sie war doch erst siebzehn.«
Solène biss sich auf die Unterlippe.
»Eines Tages hat sie uns überrascht. Es war schrecklich. Das Grauenvollste, das ich jemals erlebt habe.« Solène stockte einen Moment, bevor sie weiterredete. »Sie stand minutenlang ganz blass in der Tür, und keiner von uns wagte ein Wort. Und dann schrie sie mit einem Mal los. Sie war völlig hysterisch. ›Meine Güte, Solène, wie kannst du mir das antun? Du bist doch meine Schwester! Du bist doch meine Schwester !‹, schrie sie immer wieder. ›Du hättest jeden haben können, warum musstest du mir Victor wegnehmen, warum?‹ Und dann sagte sie diesen Satz, den ich manchmal heute noch höre, und ihre liebe sanfte Stimme war von Hass erfüllt. ›Hauptsache, du bekommst, was du willst, alles andere interessiert dich nicht, was?‹, sagte sie. ›Ich will dich nie mehr sehen, hörst du? Geh mir aus den Augen!‹«
»Meine Güte, das ist ja schrecklich!«, murmelte ich.
»Ja, das war es. Schrecklich«, sagte Solène. »In den folgenden Wochen sprach Mélanie kein einziges Wort mehr mit mir. Nicht, als ich sie um Verzeihung bat, nicht, als meine Eltern versuchten, Frieden zwischen uns zu stiften, nicht, als ich ein letztes Mal vor meinem Abflug nach San Francisco in ihr Zimmer trat und Adieu sagen wollte. Sie saß an ihrem Schreibtisch und drehte sich nicht einmal um. Sie war wie erstarrt. Ich hatte sie verraten, ich hatte sie zutiefst verletzt. Sie konnte mir nicht vergeben.«
Ich hatte die Hand an den Mund gelegt und sah bestürzt zu der blonden Frau an der Frisierkommode hinüber, die um ihre Fassung kämpfte.
»Und später? Habt ihr denn später wieder Kontakt gehabt?«, fragte ich schließlich.
Solène nickte. »Wir haben uns noch ein einziges Mal gesehen. Auf der Beerdigung unserer Eltern. Aber das war nicht sehr erfreulich.« Sie stellte das Glas ab.
»Wann war das?«
»Etwa drei Jahre, nachdem ich nach Kalifornien gegangen war. Ich war inzwischen schon gut im Geschäft, hatte meine ersten größeren Rollen. Der Erfolg fiel mir einfach so zu, und ich war so glücklich, dass ich meinen Eltern diese Reise an die Côte d’Azur schenken konnte – ich habe dir davon erzählt, damals auf unserem Spaziergang um die Place Vendôme, erinnerst du dich?«
Ich nickte. Wie hätte ich diesen Spaziergang je vergessen können?
»Dann verunglückten meine Eltern auf der Fahrt nach Saint-Tropez. Sie waren beide sofort tot. Die Schwester meiner Mutter hat mich netterweise benachrichtigt. Da waren die Leichen schon überführt worden. Ich flog nach Paris. Als Mélanie mich auf der Beerdigung sah, geriet sie völlig außer sich. Sie schrie
Weitere Kostenlose Bücher