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Eines Abends in Paris

Eines Abends in Paris

Titel: Eines Abends in Paris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicolas Barreau
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sich einfach weg.«
    Solène unterbrach sich. »Das klingt jetzt so, als seien wir unglücklich gewesen, aber das ist nicht wahr. Wir hatten eine schöne Kindheit. Wir fühlten uns geborgen. Meine Eltern hatten oft Geldsorgen, aber sie haben sich nie gestritten, oder nur ganz selten. Man spürte stets die tiefe Zuneigung, die sie füreinander empfanden. ›Ich freue mich jedes Mal, wenn deine Mutter zur Tür hereinkommt‹, hat Papa einmal zu mir gesagt. Er litt darunter, dass er Maman nicht mehr bieten konnte als diese dunkle Wohnung im Erdgeschoss, in der wir im Winter manchmal nur das Wohnzimmer und die Küche heizten, um Geld zu sparen. Aber Maman war auf ihre stille, freundliche Art guter Dinge. Der einzige Luxus, den sie sich leistete, waren Blumen. Auf unserem Küchentisch standen immer Blumen. Sonnenblumen, Rosen, Gladiolen, Vergissmeinnicht, Flieder – Flieder mochte sie besonders gern. Alles war gut.«
    Sie schwieg einen Moment und stellte das Bild mit den zwei Mädchen behutsam wieder auf den Frisiertisch.
    »Aber dann, ich weiß auch nicht genau, wann es passierte, wurde es mir mit einem Mal zu eng zu Hause. Ich ging immer öfter weg, hatte Freunde, die in vornehmen Haushalten lebten und großzügig sein konnten. Ich wurde unzufrieden. Ich hätte gerne Gesang studiert, stattdessen machte ich eine Lehre. Mélanie war gerade siebzehn und ging noch zur Schule. Ich war zwanzig und schwor mir, dass ich nicht bei einem Herrenausstatter auf dem Boulevard Raspail versauern würde. Ich wollte die Welt erobern.«
    »Und dann? Was passierte dann?«, fragte ich und gab selbst die Antwort. »Dann kam Victor, der Austauschstudent, und du hast dich Hals über Kopf in ihn verliebt.«
    »Dann kam Victor, der Austauschstudent, und meine kleine Schwester verliebte sich Hals über Kopf in diesen blonden gutaussehenden jungen Mann mit den fröhlichen Augen. Er wohnte ein paar Häuser weiter zur Untermiete. Mélanie traf ihn eines Sonntags bei einer Filmvorführung im Cinéma Paradis. Ich hatte an jenem Tag etwas Besseres vor. Ich war von der Familie einer Freundin eingeladen, den Sommer über in ihrem Ferienhaus am Meer zu verbringen. Das ließ ich mir natürlich nicht entgehen. Und während ich den jungen Männern in Deauville den Kopf verdrehte, machte Mélanie eine schicksalhafte Bekanntschaft in Paris.«
    Solène fuhr sich durch die Haare und stieß ein kleines trauriges Lachen aus.
    »Victor saß zufälligerweise neben ihr im Kino. Sie sahen sich an, und es war Liebe auf den ersten Blick, wie man so schön sagt. Meine scheue Schwester, die sich nie zuvor verliebt hatte, die wie eine Prinzessin Turandot alle Werbungen abgewiesen hatte – unter uns, es waren nicht sehr viele –, verschenkte ihr Herz ohne jedes Zögern. Die beiden waren unzertrennlich, und Mélanie war überglücklich. Sie vergötterte Victor und wann immer sie von ihm sprach, bekamen ihre Augen diesen sanften Glanz – sie leuchteten wie zwei Kerzen. Es war rührend mit anzusehen. Ich glaube, mit Victor wäre sie bis ans Ende der Welt gegangen.«
    »Und dann?«, fragte ich atemlos.
    »Dann kam die böse Schwester«, entgegnete Solène trocken. Es sollte gleichmütig klingen, aber man sah ihr an, dass sie Mühe hatte weiterzusprechen. Sie stand aus ihrem Sessel auf, ging zur Minibar herüber und goss sich einen Scotch ein. »Ich glaube, ich brauche jetzt einen Drink. Du auch?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    Langsam trank Solène ein paar Schlucke aus dem geschliffenen schweren Glas und lehnte sich dann an die Frisierkommode.
    »Als ich nach dem Sommer zurückkam, stellte Mélanie mir ihren Freund vor. Er war wirklich süß, so ein richtiger Sunnyboy aus Kalifornien, und ich muss gestehen, ich war überrascht, dass Mélanie einen so attraktiven jungen Mann an Land gezogen hatte.«
    Sie nahm noch einen Schluck von dem Scotch.
    »Tja. Der Rest ist schnell erzählt. Wir gingen also zusammen in dieses kleine Café in Saint-Germain, und wie es so meine Art ist, erzählte ich lebhaft von den Ferien und meinen Erlebnissen am Meer. Ich lachte und scherzte, ich flirtete ein bisschen mit dem Freund meiner Schwester. Ich kann nicht einmal sagen, dass ich irgendein Ziel verfolgte, ich war einfach wie immer, verstehst du?«
    Ich nickte stumm. Ich konnte mir die Situation genau vorstellen.
    »Und dann passierte das, was immer passierte, wenn Mélanie und ich irgendwo zusammen hingingen. Ich bekam die ganze Aufmerksamkeit, meine Schwester verblasste neben mir wie ein

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