Eines Abends in Paris
Warten, meine ich. Gibt es einen Menschen, der gerne wartet? Mir ist noch keiner begegnet.
Die nächsten beiden Tage verbrachte ich in einer freudig-erregten Unruhe, die mich an die Ungeduld aus Kindertagen denken ließ, wenn Weihnachten vor der Tür stand und man immer wieder an der Wohnzimmertür vorbeischlich, in der Hoffnung, einen Blick auf die Geschenke zu erhaschen. Ich fing an, die Stunden zu zählen. Selten hatte ich so oft auf meine Uhr geschaut.
Bisher hatte ich noch nichts von Solène gehört außer einem kryptischen Anruf, in dem sie mir – unterbrochen von einem heftigen Knistern in der Leitung – sagte, es sei nicht ganz einfach, aber sie bleibe am Ball. Sie drehte gerade irgendwelche Picknick-Szenen im Bois de Boulogne und der Empfang war nicht sehr gut.
Um überhaupt etwas zu tun, hatte ich in einem Telefonbuch von Paris unter dem Buchstaben »F« geblättert – das Ergebnis war wie zu erwarten niederschmetternd. Es stand zu befürchten, dass Solène doch noch nach Le Pouldu fahren musste, um ihre Tante Lucie ausfindig zu machen.
Robert fand die ganze Geschichte sensationell. »Was für eine Räuberpistole«, rief er. »Ein tolles Mädchen, diese Solène – die würde ich wirklich mal gerne kennenlernen! Du schuldest mir noch einen Gefallen, Alain, vergiss das nicht.« Im Übrigen war mein Freund der Ansicht, er habe den entscheidenden Hinweis gegeben, weil er auf die Idee gekommen war, alle Männernamen, die mit dem Buchstaben »V« begannen, untereinanderzuschreiben.
»Siehst du«, sagte er. »Man muss nur systematisch vorgehen, dann findet man schon die Lösung. Halt mich auf dem Laufenden. Ich bin gespannt wie ein Flitzebogen.«
Das war ich auch. Wenn ich nicht im Kino war und arbeitete, spazierte ich durch den Jardin du Luxembourg, um mich zu beruhigen, ich saß in Cafés herum und sah versonnen zum Fenster hinaus, ich lag zu Hause reglos auf dem Sofa und starrte Löcher in die Luft, bis Orphée auf mich sprang und vorwurfsvoll miaute. In jeder freien Minute malte ich mir das Wiedersehen mit Mélanie aus. Wo es stattfinden würde, wie es stattfinden würde, was Mélanie sagen würde, was ich sagen würde – ich phantasierte mir die zauberhaftesten und erhabensten Dialoge zusammen, und in jenen Tagen wäre ich der perfekte Drehbuchschreiber für Liebesfilme gewesen. Nur die eine Frage stellte ich mir nicht: ob unser Treffen überhaupt stattfinden würde.
Im Cinéma Paradis lief in der Spätvorstellung Serenade zu Dritt – eine Komödie von Ernst Lubitsch mit der beliebten Konstellation »Zwei Männer, eine Frau«, und als ich die alten Filmplakate aufhängte, die Miriam Hopkins, Gary Cooper und Frederic March zeigten, dachte ich, dass Solène Avril in einer Neuverfilmung die ideale Besetzung für die schlagfertige blonde Miriam Hopkins gewesen wäre, die sich zwischen zwei verliebten Männern, die eigentlich gute Freunde sind, nicht entscheiden kann und sich deshalb für beide entscheidet. Der berühmte letzte Satz It’s a Gentlemen’s Agreement hätte ihr sicher gefallen. Gentlemen’s Agreements zwischen Männern und Frauen werden in der Regel nicht eingehalten.
Ich lächelte. Bei uns hatte die Serenade zu Dritt eine andere Konstellation gehabt, aber wie in der guten alten Lubitsch-Komödie war ich mir sicher, dass sich am Ende alle miteinander versöhnen würden. Ich hoffte auf ein Happy End.
Ich überlegte, dass ich Solène am Abend noch einmal anrufen würde, um sie zu fragen, ob es Neuigkeiten gab. Dann zog ich mein Mobiltelefon aus der Jackentasche, um zu schauen, ob ich eventuell eine Nachricht verpasste hatte. Was natürlich nicht der Fall war.
Madame Clément und François hatte ich in die Details der wahnwitzigen Geschichte um zwei ungleiche Schwestern und den ahnungslosen Besitzer eines kleinen Programmkinos nicht eingeweiht, aber natürlich war den beiden mein Liebeskummer und meine ständig wechselnde Stimmung in den letzten Wochen nicht verborgen geblieben. Nach euphorischer Verliebtheit, stolzer Aufgeregtheit, völliger Ratlosigkeit und tiefster Depression folgte nun eine Phase aufgekratzter Nervosität.
François in seiner gleichmütigen Art begnügte sich damit, die dunklen Augenbrauen hochzuziehen, als ich an diesem Tag zum fünften Mal in den Vorführraum kam, summend an den Filmrollen herumhantierte und schließlich seine Tasse zu Boden warf. Doch Madame Clément war nicht so geduldig.
»Was ist denn nur mit Ihnen los, Monsieur Bonnard? Das ist ja nicht
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