Einfalt, Weisheit, Unglaeubigkeit
sie wurden für einen speziellen Gefährten bereitgestellt. Wir können aber angesichts der Lage der Dinge noch weiter gehen. Mr. Todhunter mag Besitzer dieser Weingläser sein oder auch nicht, aber es gibt kein Anzeichen dafür, daß er Wein besitzt. Was also sollten diese Gefäße enthalten? Spontan möchte ich annehmen Brandy oder Whisky, vielleicht von einer besonderen Sorte, aus einer Flasche in der Tasche von Mr. Glass. Damit entsteht gewissermaßen das Bildnis dieses Mannes, oder wenigstens des Typs: groß, ältlich, elegant, aber bereits etwas verbraucht, Liebhaber sicherlich von Glücksspielen und starken Getränken, vielleicht zu sehr Liebhaber. Mr. Glass ist ein Gentleman, wie er in den Randgebieten der Gesellschaft nicht unbekannt ist.«
»Hören Sie«, rief die junge Frau, »wenn Sie mich nicht vorbeilassen, um ihn loszubinden, laufe ich raus und schreie nach der Polizei.«
»Ich würde Ihnen nicht raten, Miss MacNab«, sagte Dr. Hood gravitätisch, »sich mit der Herbeiholung der Polizei zu überstürzen. Father Brown, ich rate Ihnen ernstlich, Ihre Herde zu beruhigen, in ihrem Interesse, nicht in meinem. Nun denn, wir haben einiges von der Gestalt und dem Wesen des Mr. Glass erkannt; was sind nun die wichtigsten Tatsachen, die wir von Mr. Todhunter kennen? Es sind vor allem drei: daß er sparsam ist, daß er mehr oder minder wohlhabend ist und daß er ein Geheimnis hat. Nun ist es sicherlich offenkundig, daß dies die drei wichtigsten Merkmale der Art Mann sind, der erpreßt wird. Und sicherlich ist es ebenso offenkundig, daß die verblichene Eleganz, die lasterhaften Gepflogenheiten und der schrille Zorn von Mr. Glass die unverkennbaren Merkmale der Art Mann sind, der ihn erpreßt. Wir haben hier die beiden typischen Gestalten aus einer Schweigegeldtragödie: auf der einen Seite den ehrbaren Mann mit einem Geheimnis; auf der anderen den Geier aus dem Westend mit einem Gespür für Geheimnisse. Diese beiden Männer trafen heute hier zusammen und haben miteinander gestritten, wobei sie Hiebe und eine blanke Waffe verwendeten.«
»Werden Sie ihm jetzt diese Stricke abnehmen?« fragte das Mädchen hartnäckig.
Dr. Hood legte den Seidenhut sorgsam auf dem Beistelltisch ab und ging dann hinüber zu dem Gefangenen. Er studierte ihn sorgfältig, bewegte ihn sogar ein wenig und drehte ihn an den Schultern halb herum, antwortete aber nur:
»Nein; ich denke, diese Stricke werden durchaus reichen, bis Ihre Freunde von der Polizei die Handschellen bringen.«
Father Brown, der teilnahmslos auf den Teppich gestarrt hatte, hob sein rundes Gesicht und sagte: »Was meinen Sie damit?«
Der Mann der Wissenschaft hatte den eigenartigen Dolchdegen vom Teppich aufgehoben und untersuchte ihn aufmerksam, als er antwortete:
»Weil Sie Mr. Todhunter zusammengeschnürt vorfinden«, sagte er, »fliegen Sie alle auf die Schlußfolgerung, daß Mr. Glass ihn zusammengeschnürt hat; und dann, vermutlich, entflohen ist. Dagegen sprechen vier Gründe: Erstens, warum sollte ein so eitler Mann wie unser Freund Glass seinen Hut zurücklassen, wenn er das Zimmer aus freien Stücken verließ? Zweitens«, fuhr er fort und ging zum Fenster, »ist dies der einzige Ausgang, und der ist von innen verschlossen. Drittens hat diese Klinge hier einen kleinen Blutfleck an der Spitze, aber an Mr. Todhunter ist keine Wunde. Mr. Glass nahm diese Wunde mit sich fort, tot oder lebendig. Rechnen Sie die einfache Wahrscheinlichkeit hinzu. Es ist sehr viel wahrscheinlicher, daß die erpreßte Person versucht, ihren Peiniger zu töten, als daß der Erpresser die Gans töten sollte, die ihm die goldenen Eier legt. Mir scheint, da haben wir eine ziemlich vollständige Geschichte.«
»Und die Stricke?« fragte der Priester, dessen Augen in einer Art leerer Bewunderung geöffnet blieben.
»Ja, die Stricke«, sagte der Experte mit eigenartiger Betonung. »Miss MacNab wollte so gerne wissen, warum ich Mr. Todhunter nicht von seinen Stricken befreit habe. Ich will es ihr sagen. Ich habe es nicht getan, weil Mr. Todhunter sich selbst von ihnen in dem Augenblick befreien kann, in dem er das will.«
»Was?« schrie die Zuhörerschaft in den unterschiedlichsten Tönen des Erstaunens.
»Ich habe mir alle Knoten an Mr. Todhunter angesehen«, fuhr Hood ruhig fort. »Ich weiß einiges über Knoten; sie stellen einen eigenen Zweig der Kriminologie dar. Jeden einzelnen dieser Knoten hat er selbst geschlungen und kann ihn auch jederzeit selbst wieder lösen; und
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