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Einfalt, Weisheit, Unglaeubigkeit

Einfalt, Weisheit, Unglaeubigkeit

Titel: Einfalt, Weisheit, Unglaeubigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gilbert Keith Chesterton
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Staatsanwalt war Sir Walter Cowdray, ein schwerer, aber gewichtiger Advokat jener Art, die weiß, wie man englisch und vertrauenswürdig erscheint und wie man sich rhetorisch zurückhaltend hervortut. Den Gefangenen verteidigte der Anwalt Patrick Butler, den jene für einen bloßen »Flaneur« hielten, die den Charakter der Iren mißverstehen – und jene, die von ihm noch nicht verhört worden sind. Die medizinischen Untersuchungsberichte ergaben keine Widersprüche, da der Arzt, den Seymour sofort beigezogen hatte, mit dem bedeutenden Chirurgen übereinstimmte, der die Leiche später untersucht hatte. Aurora Rome war mit einem scharfen Instrument wie Messer oder Dolch erstochen worden; einem Instrument zumindest, dessen Klinge kurz war. Die Wunde befand sich unmittelbar über dem Herzen, und sie war sofort gestorben. Als der Arzt sie zuerst sah, konnte sie kaum mehr als 20 Minuten tot sein. Deshalb konnte sie, als Father Brown sie fand, kaum mehr als 3 Minuten tot sein.
    Einige amtliche Polizeiberichte folgten, die sich vor allem mit der Anwesenheit oder Abwesenheit jeglichen Beweises für einen Kampf befaßten; der einzige Hinweis auf so etwas war, daß das Kleid an der Schulter zerrissen war, und das wiederum paßte nicht eben gut zu Richtung und Endgültigkeit des Hiebes. Nachdem diese Einzelheiten vorgetragen, wenn auch nicht erklärt waren, wurde der erste der wichtigen Zeugen aufgerufen.
    Sir Wilson Seymour machte seine Aussage, wie er alles tat, was er überhaupt tat – nicht nur gut, sondern vollendet. Obwohl selbst weitaus mehr ein Mann der Öffentlichkeit als der Richter, vermittelte er doch gerade jenen feinen Hauch von Selbstrücknahme vor des Königs Gerichtshof; und obwohl jedermann ihn ebenso beobachtete, wie man den Premierminister oder den Erzbischof von Canterbury beobachtet hätte, hätte doch niemand etwas anderes über sein Auftreten sagen können, als daß es das eines privaten Gentleman war, wobei die Betonung auf dem Hauptwort liegt. Zudem war er erfrischend klar, wie er es auch bei Ausschußsitzungen war. Er hatte Miss Rome im Theater besucht; er hatte dort Hauptmann Cutler getroffen; es hatte sich ihnen für kurze Zeit der Angeklagte angeschlossen, der dann in seine eigenen Gemächer zurückgekehrt war; danach hatte sich ihnen ein römisch-katholischer Priester angeschlossen, der nach der verstorbenen Dame fragte und sagte, sein Name sei Brown. Miss Rome sei dann aus dem Theater bis zum Eingang der Passage gegangen, um Hauptmann Cutler ein Blumengeschäft zu zeigen, wo er ihr noch mehr Blumen kaufen sollte; und der Zeuge sei da im Raum verblieben und habe einige Worte mit dem Priester gewechselt. Er habe dann ganz deutlich die Verstorbene, nachdem sie den Hauptmann auf seinen Botengang entsandt habe, sich lachend umkehren und die Passage hinab zum anderen Ende laufen gehört, wo sich die Garderobe des Gefangenen befand. In müßiger Neugier betreffend die schnellen Bewegungen seiner Freunde sei er selbst zum Anfang der Passage hinausgeschlendert und habe sie hinab zur Tür des Gefangenen hin überblickt. Ob er in der Passage etwas gesehen habe? Ja; er habe in der Passage etwas gesehen.
    Sir Walter Cowdray ließ eine eindrucksvolle Pause entstehen, während der der Zeuge zu Boden blickte und trotz seiner üblichen Gelassenheit bleicher als üblich erschien. Dann fragte der Staatsanwalt mit leiserer Stimme, die zugleich anteilnehmend und schleichend klang: »Haben Sie es deutlich gesehen?«
    Sir Wilson Seymour hatte, wie erregt auch immer, sein ausgezeichnetes Hirn in der vollsten Arbeitsordnung. »Sehr deutlich, was die Umrisse angeht, aber nur sehr undeutlich, oder besser überhaupt nicht, was die Einzelheiten innerhalb des Umrisses angeht. Die Passage ist so lang, daß jemand in ihrer Mitte vor der Helligkeit am anderen Ende einfach schwarz erscheint.« Der Zeuge senkte seine steten Augen ein weiteres Mal und fügte hinzu: »Ich hatte diese Tatsache bereits zuvor bemerkt, als Hauptmann Cutler sie zuerst betrat.« Wiederum entstand ein Schweigen, und der Richter lehnte sich vor und machte sich eine Notiz.
    »Na schön«, sagte Sir Walter geduldig, »und wie sah der Umriß aus? Ähnelte er zum Beispiel der Gestalt der ermordeten Frau?«
    »Nicht im entferntesten«, antwortete Seymour ruhig.
    »Wie erschien er Ihnen denn?«
    »Er erschien mir«, erwiderte der Zeuge, »wie ein großer Mann.«
    Jedermann im Gericht hielt seine Augen auf seine Feder gerichtet, oder seine Regenschirmkrücke,

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