Einfalt, Weisheit, Unglaeubigkeit
dunklen Masse des linken Flügels geöffnet, und eine Gestalt erschien schwarz vor dem beleuchteten Inneren – eine vermummte Gestalt, die sich vorwärts beugte und offenbar in die Nacht starrte. Sie schloß die Türe hinter sich und ich sah, daß sie eine Laterne trug, die einen trüben Lichtfleck auf Kleidung und Gestalt ihres Trägers warf. Es schien die Gestalt einer Frau zu sein, die in einen zerlumpten Mantel gehüllt und offensichtlich verkleidet war, um keine Aufmerksamkeit zu erregen; es war da etwas sehr Sonderbares um die Lumpen und das Huschen dieser Person, die da geradewegs aus jenen goldverkleideten Räumen kam. Sie schlug vorsichtig den gewundenen Gartenweg ein, der sie auf ein halbes Hundert Meter an mich heranbrachte; dann stand sie für einen Augenblick auf jener Rasenbank aufrecht, die den schlammigen See überblickt, und sie hielt ihre flammende Laterne über den Kopf und schwang sie entschlossen dreimal hin und her, wie um ein Zeichen zu geben. Als sie sie zum zweiten Male schwang, fiel für einen Augenblick ein Lichtstrahl auf ihr Gesicht, ein Gesicht, das ich kenne. Sie war unnatürlich blaß, und ihr Kopf war in den geliehenen Plebejerschal eingehüllt, aber ich bin sicher, daß es Etta Todd war, die Tochter des Millionärs.
Sie ging auf ihren Spuren in der gleichen Heimlichkeit zurück, und wiederum schloß sich die Tür hinter ihr. Ich wollte schon über den Zaun klettern und ihr folgen, als mir klar wurde, wie würdelos das Jagdfieber des Detektivs war, das mich in dieses Abenteuer gelockt hatte; und daß ich in meiner amtlichen Eigenschaft bereits alle Karten in der Hand hielt. Ich wollte mich gerade abwenden, als ein neues Geräusch in die Nacht brach. Ein Fenster wurde in einem der oberen Stockwerke aufgerissen, aber just um die Ecke des Hauses, so daß ich es nicht sehen konnte; und ich hörte eine Stimme von schrecklicher Deutlichkeit über den dunklen Garten hin schreien, wo denn Lord Falconroy sei, er befinde sich in keinem Zimmer des Hauses. Die Stimme konnte man nicht mißverkennen. Ich habe sie bei mancher Wahlversammlung und bei mancher Aufsichtsratssitzung gehört; das war Ireton Todd selbst. Einige der anderen schienen an die tieferliegenden Fenster oder auf die Stufen getreten zu sein und riefen zu ihm hinauf, daß Falconroy vor gut einer Stunde hinab zum Pilgrim’s Pond geschlendert sei und daß man ihn seither nicht mehr finden könne. Dann schrie Todd ›Verfluchter Mord!‹ und knallte das Fenster zu; und ich konnte hören, wie er drinnen die Treppen hinabstürmte. Da besann ich mich auf meine früheren und weiseren Ansichten und räumte mich aus dem Weg der allgemeinen Suche, die jetzt folgen mußte; und war hier nicht später als um 8 Uhr zurück.
Nun bitte ich Sie, sich an jenen kleinen Bericht aus der Gesellschaft zu erinnern, der Ihnen so entsetzlich uninteressant erschien. Wenn der Sträfling den Schuß nicht für Todd aufgehoben hatte, was er offensichtlich nicht tat, dann ist es am wahrscheinlichsten, daß er ihn für Falconroy aufgehoben hat; und es sieht so aus, als habe er ihn inzwischen abgeliefert. Es gibt keinen geeigneteren Platz, um einen Mann zu erschießen, als die geologisch eigenartigen Ufer jenes Teiches, wo ein hineingestürzter Leichnam durch dicke Schlammschichten in praktisch unbekannte Tiefen absackt. Wollen wir also annehmen, daß unser Freund mit dem kurzgeschorenen Haar gekommen ist, um Lord Falconroy und nicht Todd zu töten. Nun habe ich Sie schon darauf hingewiesen, daß es viele Gründe gibt, weshalb Menschen in Amerika Todd töten wollen. Aber es gibt keinen Grund, warum irgendwer in Amerika einen gerade erst angekommenen englischen Lord töten wollen sollte, mit Ausnahme jenes einen Grundes, der in der Regenbogenpresse genannt wird – weil der Lord der Tochter des Millionärs den Hof macht. Unser kurzgeschorener Freund muß also trotz seiner so schlecht sitzenden Kleidung ein hoffnungsvoller Liebhaber sein.
Ich weiß, daß diese Vorstellung Ihnen widersprüchlich und sogar komisch vorkommt; aber das liegt daran, daß Sie Engländer sind. Für Sie klingt das so, als erzählte jemand, daß die Tochter des Erzbischofs von Canterbury in der St.-George-Kathedrale am Hanover Square einen Straßenkehrer auf Urlaub heiraten werde. Damit verschaffen Sie aber der Aufstiegskraft und Sehnsucht nach Höherem unserer bemerkenswerteren Bürger keine Gerechtigkeit. Sie sehen einen gutaussehenden grauhaarigen Mann im Abendanzug mit einer gewissen
Weitere Kostenlose Bücher