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Einfalt, Weisheit, Unglaeubigkeit

Einfalt, Weisheit, Unglaeubigkeit

Titel: Einfalt, Weisheit, Unglaeubigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gilbert Keith Chesterton
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die Seiten mit einer schrecklichen Geduld um, bis er zum Jakobusbrief kam und zu lesen begann: ›So ist auch die Zunge nur ein kleines Glied und –‹
    Etwas in dieser Stimme ließ den Fürsten sich plötzlich umdrehen und den Bergpfad herabjagen, den er hinaufgeklommen war. Er hatte bereits den halben Weg zu den Gärten des Schlosses zurückgelegt, ehe er versuchte, sich die erstickende Schärpe von Hals und Mund zu lösen. Er versuchte es wieder und wieder, und es war unmöglich. Die Männer, die den Knebel geknüpft hatten, kannten den Unterschied zwischen dem, was ein Mann mit seinen Händen vor sich tun kann, und dem, was er mit seinen Händen hinter seinem Kopf tun kann. Seine Beine waren frei, um wie Antilopen über die Berge zu springen; seine Arme waren frei für jede Geste oder für jedes Signal; aber sprechen konnte er nicht. In ihm hauste ein stummer Teufel.
    Er war den Wäldern bereits nahe, die das Schloß umgaben, ehe er richtig begriff, was sein stummer Zustand bedeutete und was er bedeuten sollte. Erneut blickte er grimmig hinab auf die hellen viereckigen Labyrinthe der lampenbeleuchteten Stadt unter sich, aber er lächelte nicht mehr. Er wiederholte sich in tödlicher Ironie die Phrasen seiner früheren Stimmung. Soweit das Auge blicken konnte, standen die Gewehre seiner Freunde, deren jeder einzelne ihn erschießen würde, wenn er den Anruf nicht beantworten konnte. Gewehre standen so nahe, daß Wald und Hang in regelmäßigen Abständen von Patrouillen begangen werden konnten; deshalb war es nutzlos, sich im Wald bis zum Morgen zu verbergen. Gewehre standen so weit entfernt, daß kein Feind sich auf irgendwelchen Umwegen in die Stadt schleichen konnte; deshalb war es sinnlos, auf irgendeinem weiten Weg in die Stadt zurückzukehren. Ein Ruf von ihm würde seine Soldaten den Berg hinaufstürmen lassen. Aber von ihm würde kein Ruf kommen.
    Der Mond war in strahlendem Silberglanz aufgegangen, der Himmel zeigte sich in Streifen hellen Nachtblaus zwischen den schwarzen Streifen der Föhren um das Schloß. Blumen von großer und fedriger Art – nie noch hatte er zuvor solche Dinge bemerkt – leuchteten zugleich und wurden vom Mondschein verfärbt und erschienen unbeschreiblich phantastisch, wie sie sich zusammenrotteten, als kröchen sie um die Wurzeln der Bäume herum. Vielleicht war seine Vernunft bereits durch die unnatürliche Gefangenschaft unsicher geworden, die er mit sich herumschleppte, aber in jenem Wald empfand er etwas unergründlich Deutsches – das Märchen. Mit halbem Geiste wußte er, daß er sich dem Schloß eines Ungeheuers näherte – vergessen hatte er, daß er selbst das Ungeheuer war. Er erinnerte sich, wie er seine Mutter gefragt hatte, ob im alten Park zu Hause Bären hausten. Er bückte sich, um eine Blume zu pflücken, als ob sie ein Zauber gegen Verzauberung sei. Der Stengel war stärker, als er erwartet hatte, und brach mit einem leisen Krachen. Er versuchte, sie sorgsam in seine Schärpe zu stecken, als er den Anruf hörte: ›Wer da?‹ Da erinnerte er sich, daß die Schärpe nicht an ihrem gewöhnlichen Platze war.
    Er versuchte zu schreien, und war stumm. Der zweite Anruf kam; und dann ein Schuß, der kreischte, während er herankam, und dann durch den Aufschlag plötzlich verstummte. Otto von Großenmark lag friedlich zwischen den Märchenbäumen und konnte weder mit Gold noch mit Stahl weiteres Unheil anrichten ; nur der Silberstift des Mondes griff die komplizierten Verzierungen seiner Uniform auf und zeichnete sie hie und da nach, oder die alten Falten auf seiner Stirne. Möge Gott Erbarmen mit seiner Seele haben.
    Der Wachposten, der entsprechend den strikten Befehlen der Garnison gefeuert hatte, kam natürlich herbeigelaufen, um nach Spuren seiner Beute zu suchen. Es war ein Gemeiner namens Schwartz, seither in seinem Beruf nicht unbekannt, und was er fand, war ein kahler Mann in Uniform, dessen Gesicht mit einer Art Maske aus seiner eigenen Offiziersschärpe so bandagiert war, daß nichts als seine offenen toten Augen zu sehen war, die im Mondlicht steinern glitzerten. Die Kugel war durch den Knebel in den Mund eingedrungen; deshalb gab es ein Schußloch in der Schärpe, aber nur einen Schuß. Zwar nicht korrekt, aber sehr natürlich riß der junge Schwartz die rätselvolle Seidenmaske ab und schleuderte sie auf den Rasen; und dann erkannte er, wen er niedergestreckt hatte.
    Wir können uns der nächsten Phase nicht sicher sein. Aber ich neige dazu

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