Einfalt, Weisheit, Unglaeubigkeit
war sicher.
Das war um so deutlicher, nachdem er die Kuppe überschritten hatte und sah, wie nackt das Nest seines alten Feindes war. Er stand auf einer schmalen Felsenkanzel, die an drei Seiten steil abbrach. Hinten lag die schwarze Höhle, von grünen Dornen maskiert, so niedrig, daß man kaum glauben konnte, ein Mann könne sie betreten. Vorne der Felsabsturz und die weite, aber wolkige Sicht übers Tal. Auf der engen Felskanzel stand ein altes bronzenes Chor- oder Lesepult und ächzte unter einer großen deutschen Bibel. Bronze oder Kupfer war von den nagenden Winden und Wettern an jenem ausgesetzten Ort grün geworden, und Otto kam unmittelbar in den Sinn: ›Selbst wenn sie Waffen gehabt haben, müssen die inzwischen verrostet sein.‹ Der aufgehende Mond hatte hinter Gipfeln und Zacken totenfahles Dämmerlicht werden lassen, und der Regen hatte aufgehört.
Hinter dem Lesepult, mit dem Blick über das Tal, stand ein sehr alter Mann in einer schwarzen Robe, die ebenso gerade herabfiel wie die Felsabhänge ringsherum, und dessen weißes Haar und schwache Stimme gleichermaßen im Winde zu verwehen schienen. Er las offenbar ein Stundengebet als Teil seiner religiösen Übungen. ›Sie vertraueten auf ihre Pferde…‹
›Mein Herr‹, sagte der Fürst von Heiligwaldenstein mit recht ungewöhnlicher Höflichkeit, ›ich würde gerne ein kurzes Wort mit Ihnen sprechen.‹
›… und auf ihre Streitwagen‹, fuhr der alte Mann schwach fort, ›wir aber vertrauen auf den Namen des Herrn aller Heerscharen…‹ Seine letzten Worte waren unhörbar, aber er schloß das Buch verehrungsvoll und machte, da fast blind, eine tastende Bewegung und hielt sich dann am Lesepult fest. Sofort glitten seine beiden Diener aus der niedrigen Höhle hervor und stützten ihn. Sie trugen dumpfschwarze Gewänder dem seinen gleich, aber auf ihrem Haar lag weder jenes frostige Silber noch auf ihren Gesichtern die frostige Feinheit der Züge. Es waren Landleute, Kroaten oder Ungarn, mit breiten, stumpfen Gesichtern und schmalen Augenschlitzen. Zum ersten Mal beunruhigte den Fürsten irgend etwas, aber sein Mut und sein diplomatisches Geschick blieben standhaft.
›Ich fürchte, wir sind uns‹, sagte er, ›seit jener furchtbaren Kanonade nicht mehr begegnet, in der Ihr armer Bruder fiel.‹
›Alle meine Brüder starben‹, sagte der alte Mann und sah immer noch über das Tal hin. Dann wandte er für einen Augenblick Otto sein ermattetes feines Gesicht zu und sein wintriges Haar, das ihm wie Eiszapfen über die Augenbrauen fiel, und fügte hinzu: ›Wie Sie sehen, bin auch ich tot.‹
›Ich hoffe, Sie verstehen‹, sagte der Fürst und nahm sich fast bis zur Versöhnlichkeit zusammen, ›daß ich nicht hergekommen bin, um Sie als Gespenst jener großen Kämpfe heimzusuchen. Wir wollen nicht darüber reden, wer damals im Recht oder im Unrecht war, aber in wenigstens einem Punkt hatten wir nie unrecht, weil Sie immer recht hatten. Was immer man über die Politik Ihrer Familie sagen mag, niemand hat auch nur für einen Augenblick geglaubt, daß Sie durch die Gier nach Gold getrieben wurden; Sie haben sich selbst über jeden Verdacht erhaben gezeigt, daß –‹
Der alte Mann in dem schwarzen Gewand hatte ihn bisher gelassen mit seinen wäßrigen blauen Augen und einem Ausdruck hinfälliger Weisheit angesehen. Als aber das Wort ›Gold‹ gesagt wurde, streckte er seine Hand aus, als ob er etwas anhalten wolle, und wandte sein Gesicht ab und den Bergen zu.
›Er hat vom Gold gesprochen‹, sagte er. ›Er hat von ungesetzlichen Dingen gesprochen. Hindert ihn am Sprechen.‹
Otto hatte das Laster seiner preußischen Art und Abkunft, Erfolg nicht als einen Zufall, sondern als Charaktereigenschaft anzusehen. Er sah sich und seinesgleichen als ewige Eroberer von Völkern, die ewig erobert werden. Demgemäß war er kaum mit dem Gefühl der Überraschung bekannt und kaum auf den nächsten Zug vorbereitet, der ihn erschreckte und erstarren ließ. Er hatte gerade den Mund geöffnet, um dem Einsiedler zu antworten, als ihm der Mund gestopft und die Stimme erstickt ward mit einem starken weichen Knebelband, das ihm jählings wie eine Bandage um den Kopf geschlungen wurde. Es dauerte volle vierzig Sekunden, ehe ihm auch nur klar wurde, daß die beiden ungarischen Diener das getan hatten und daß sie es mit seiner eigenen Offiziersschärpe getan hatten.
Der alte Mann wandte sich wieder schwach seiner großen, bronzegetragenen Bibel zu, wendete
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